Literatur

wender schlägt zu

 Ihre erste Begegnung mit Wender war einschneidend, aber unspektakulär. Er war da, immer wieder, er sprach nicht mit ihr, sah sie nur an.

Und sie sah ihn an, nicht zu lange, um sich nicht zu verraten, um geschützt zu bleiben.

Doch er wusste davon, oder zumindest nahm sie das an.

Und dann trafen sie doch aufeinander und er sagte: „ Komm, ich zeig dir etwas, das du nicht sehen kannst.“ Sie wollte zunächst nicht und wollte doch, sträubte sich, schloss die Augen fest, schloss die Lippen, schloss das Herz. Sie verletzte sich dabei in der unsichtbaren Spiegelung und ihr Schutzbann war gebrochen, das spürte sie. Der Widerstand schmolz. Sie setzte sich an den Tisch und ihre Schultern sanken. „Ich bin so müde, ich kann nicht weg“. „Dann bleib“, sagte Wender.

„Warum ist diese Welt so ganz anders, als wir sie uns vorstellen ?“, fragte sie ihn, als er sie umklammerte. „Es gibt keinen Weg zurück,“ sagte Wender lächelnd, „Ich mache jetzt meine Augen zu und sehe ein Welt, die wunderbar ist.“ Weiterlesen »

#3537245

 Die Luft steht still in der alten Wohnung, hoch ragen die leeren Wände. Staubige Gedanken räkeln sich langsam wie in zähflüssigem Honig in den einzelnen Sonnenstrahlen, die durch die zerschlissenen Stoffvorhänge in den Raum fallen. Nur das leise Rascheln von Papier, aus dem hintersten Zimmer kommend, verrät Stein, dass er gefunden hat, wonach er suchte. Langsam, vorsichtig stößt er die Flügeltür auf, ein Geruch von Mottenkugeln, Dachbodenstaub und, natürlich, Nelken verbeißt sich in Steins Nase, dann in seinem Rachen und erfüllt seine Lungen mit einem betäubendem Brennen.

Das Regal erstreckt sich über die ganze Wand und ragt drei Meter hoch auf, die meisten der Bücher sind noch da, doch mehrere Lücken blecken sich wie die ausgefallenen Zähne eines mehrreihigen Rachens. Das Rascheln kommt aus der Ecke des Raumes, hoch oben, auf dem obersten Rahmen des Regals unter der leicht geschwärzten Decke, doch es verstummt, als Stein sich räuspert und endgültig den Raum betritt. Die schwarzen Augen des Bibliothekars, die wie winzige dunkle Murmeln unmittelbar nebeneinanderliegen, mustern Stein mit undeutbarer Konzentration, während einer der vier dürren, mehrfach gebrochenen und in schmerzhaft anzusehenden Winkeln zusammengewachsenen Arme in der Bewegung innehält, die eben herausgerissenen Seite des Buches auf halbem Wege zwischen dem Regal und dem reglos geöffneten Mund mit den winzigen, nadeldünnen Zähnen.

- Guten Appetit, sagt Stein und blickt sich um. Tief unter dem achtbeinigen Bibliothekar türmt sich ein kleiner Haufen Papierfetzen auf einem alten Polstersessel. - Du erlaubst? Ohne die Antwort abzuwarten rückt Stein das Möbel vor das aufragende Regal, streift die intensiv nach Nelken riechenden Überreste des Mahls zu Boden und nimmt Platz, den Kopf zurückgelegt, um den hoch über ihm thronenden Bibliothekar zu mustern, der langsam sein Mahl fortsetzt. Mit einer komplizierten Bewegung verkeilen sich vier Beine, in schwarze, fadenscheinige  Hosen gehüllt, zwischen Decke, Wand und Regal, während drei der untätigen Arme locker herabhängen. Leise rieseln Papierfetzen zu Boden, bis Stille einkehrt.

Die Stimme des Bibliothekars ist hoch und kratzig. - Der Zweite Geheime Sarkast des Unsichtbaren Hofes, sieh an. Was verschafft mir die unerwartete Ehre, Stein? 

Stein lächelt. - Wie überaus liebenswürdig. Ich erinnere mich an unser letztes Treffen, das etwas an Zivilisiertheit zu wünschen ließ ... Wie geht es dem Arm?- Der Bibliothekar zischt und verschränkt seine vier Arme vor seiner schmalen Brust. - Genug geplaudert, Stein.

-Nun gut. Stein steht auf. - Wir haben Wender gefunden. Weiterlesen »

#7654

 Was die Welt von Wender weiß, ist nicht die Wahrheit. Es ist auch nicht die Unwahrheit; die Dinge sind nicht so einfach, wenn es um Wender geht und um die Dinge, die er mir gesagt hat.

Wenn wir alle in einem Labyrinth lebten, so hat Wender mir gesagt, in einem Laybyrinth, dessen Ausmaße so gewaltig sind, dessen Komplexität so groß ist, dass wir nur mit Glück, durch Zufall oder Mühe erkennen, dass wir uns überhaupt darin befinden, dann würden wir es nie verlassen, sondern darin leben, ohne auf den Gedanken zu kommen, es gäbe einen Weg hindurch.

Wohin würde dieser Weg auch führen -- ins Innere des Labyrinths oder daraus hinaus? Die Welt ist ein Labyrinth, tatsächlich, sagte mir Wender, und in seinen Pfaden und Sackgassen findet unser Leben Platz. Manche von uns, sagte Wender und blickte mir spöttisch in die Augen, manche von uns leben an seinen Kreuzungen, wo ein Pfad vielleicht an ein Ziel führt, der andere in eine lange, verwinkelte Sackgasse, in der wir uns heimisch niederlassen, um die erdrückenden Wände um uns als unsere Horizonte, die Irrwege um uns als unsere Möglichkeiten anzuerkennen.

Dieser Typ treibt mich noch in den Wahnsinn, sagte Claire und stellte mit einem Stirnrunzeln ihr Weinglas am Geländer der Aussichtsplattform ab. Große Worte, und nichts dahinter. Ich kenne den Typ von Rattenfänger.Pass bloß auf, murmelte sie, pass bloß auf. Weiterlesen »

#1782

 Ich muss darauf achten, dass ich dem Spiegel entkomme, nicht in sein Blickfeld gerate, keinen Augenkontakt aufnehme ... gestern habe ich darin versagt.

Ich weiß nicht, wie lange ich vor ihm stand, gebannt durch seinen Blick, durch seine unerbittlichen Augen, die jeder meiner Bewegungen folgten. Nach Stunden war sein Interesse plötzlich erloschen und er wandte sich mit einem Ausdruck der Abscheu ab und brach den Bann, den sein Blick aus diesen dunklen Augenhöhlen auf mich ausübt. Meine Beine zitterten und ich musste mich mit wackligen Knien auf den schmutzigen Terracottaboden setzen, die aufgerissenen, roten Augen starr vor Erschöpfung, bis ich mich nach unbestimmter Zeit mit dem Rücken zum Spiegel mühsam wieder aufrichten konnte.

Als ich dort stand, ihm meinen Rücken zukehrend, wurde mir mit grausamer Sicherheit klar, dass er mich aus dem Spiegel weiter beobachtete, dass ich, wenn ich mich umdrehen würde, im sinnlos tapferen Versuch, diese absurde Gewissheit zu zerstören, ihm direkt in diese schwarzen Augen starren würde, mich erneut in seine Gewalt begeben würde. So stand ich mit gesenktem Kopf und verkrampften Händen mit dem Rücken zum Spiegel und spürte in meinem schweren Atem, wie sein Blick sich in meine hochgezogenen Schulterblätter bohrte, er mich mit diesen fremden Augen in meinem Gesicht abschätzig musterte ... schließlich brachte ich die Kraft auf, mich ohne einen Blick zurück langsam und mit schmerzenden Beinen aus diesem Gang des Hauses zu entfernen, wo ich Wender wieder gefunden hatte und er mich. Weiterlesen »

Wenders Welt: Roman in Fragmenten -- LAUNCHED!

Nach langen Jahren des Winterschlafs startet ab sofort "Wenders Welt". Im Menü links gibts den neuen Menüpunkt, ein Klick darauf führt zu den Texten, im Menü selbst erscheint bei Klick ein FAQ und der Link zum Mitmachen.

Was ist Wenders Welt? Hier die FAQ-Version, hier die Ganz-Lang-Schwurbelfassung, das alles kurz zusammengefasst etwa so: Wer will, kann hier anonym unter dem freien Pseudonym "wender" eigene Texte präsentieren, die sich - so die Idee - im Idealfall zu einem Roman in Fragmenten verdichten können. Keine "Schreib weiter"-Geschichte, sondern ein Kaleidoskop an Einzelteilen, die - man wirds sehen - vielleicht, aber vielleicht auch nicht um einen gemeinsamen Kern kreisen. What happens, happens. Jeder ist willkommen, aber keiner wars. Ausloggen, als Wender einloggen, Text schreiben, der admin veröffentlicht diesen dann kurz darauf. Wender wieder ausloggen, fertig. Go! Weiterlesen »

Comics, vor 20 Jahren III: The Dark Knight returns

 Frank Miller ist dafür verantwortlich, dass aus Batman wurde, was er heute ist. 1986 krempelte seine Miniserie "The Dark Knight Returns" das angestaubte Image des Rächers im Fledermauskostüm zu dem um, was Tim Burton und jetzt Christopher Nolan zu einer der interessanteren Filmfiguren verwerten, die das Superheldengenre zu bieten hat. Neben Watchmen gilt TDKR als Auslöser des Graphic-Novel-Hypes vor etwa 20 Jahren.

Zur Erinnerung: Zuvor war Batman durch die TV-Serie "Batman" aus den Sechzigerjahren zum eher komischen Haudrauf samt Sidekick Robin und knallbunten Gadgets abgestempelt - ein Bild, das erst Frank Miller gründlich zertrümmerte. Seitdem war es vor allem die düstere, nihilistische Seite des Rächers, die betont wurde; nie jedoch, nicht in Burtons Gothic-Variante und auch nicht in Nolans existentialistischer Lesart, konnte im Medium Film die Düsterkeit und Zwiespältigkeit so vollständig zum Ausdruck gebracht werden wie in "The Dark Knight Returns". Und obwohl das Batman-Revival sich bis heute mehr und mehr der Komplexität von Millers Batman anzunähern versucht: Für Kenner des Comics bleibt auch die aktuelle Batman-Interpretation weit hinter jenem Comic zurück, der Batman aus der popkulturellen Versenkung geholt hatte.

Die Ausgangssituation ist radikal: Bruce Wayne ist 60, Batman ist seit über einem Jahrzehnt in Ruhestand. Doch innere Dämonen und äußere Ereignisse zwingen den alten Millionär dazu, wieder aktiv zu werden. Statt der Heldenhaftigkeit betont Miller die Fragwürdigkeit, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen, arbeitet die, jawohl, faschistische Grundtendenz des Vigilantentums heraus, das sich mehr und mehr als Kampf eines reichen alten Mannes gegen eine desillusionierte, kriminelle (Jugend-)Kultur entpuppt, die "Law and Order" im Angesicht des Chaos und ihrer sozialen Randsituationen nur mehr als Reste einer zerbröckelnden Zivilisation kennen. Weiterlesen »

Comics, vor 20 Jahren II: V for Vendetta

 Alan Moore ist seiner Zeit voraus. Bereits 1982 erschein ein erster Abdruck seiner vielfach prämierten Graphic Novel "V for Vendetta", ab 1988 wurde sie in Farbe wiederveröffentlicht und zu Ende geführt. Und erst 2005, im Zuge der Comics-Renaissance im Mainstreamkino, machten sich die Wachowski-Brüder als Drehbuchschreiber daran, eine mediokre Actionkinoverfilmung des Stoffes hinzuschmeißen, in der alles überstylisch und explosiv sein musste. Wer den Film nicht gesehen hat: Nichts versäumt - den Comic zu lesen ist, wie bei den meisten Verfilmungen, etwas völlig anderes.

Moore ist ein Dystopist, dessen düsteres Werk sich nicht hinter "1984"  verstecken muss. Im fiktiven 1997 istganz Großbritannien ein faschistischer Überwachungsstaat, der mit Berufung auf Terrorismus und Ausnahmegesetze die medial beruhigte Bevölkerung mit eiserner Hand regiert. Geheimpolizei, Propaganda und Konzentrationslager - schon zu Beginn ist "Vendetta" kein Comic wie jeder andere, sondern eher eine Melange aus Alexandre Dumas und Che Guevara.

Die holzschnittartigen Zeichnungen von David Lloyd brauchen etwas Eingewöhnungszeit, doch die labyrinthisch erzählte Geschichte des unbekannten Anarchisten mit der absichtsvollen Guy-Fawkes -Maske reißt den Leser in eine politisch-moralische Parabel über die Pflicht zum Widerstand und das Funktionieren des Faschismus im Großen und im Kleinen.

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Comics, vor 20 Jahren: Watchmen

 Wenn dieser Tage alle Welt plus Oma ins Kino pilgert, um einem seltsamen Typen im hautengen schwarzen Gummianzug und seinen geschminkten Widersacher zu bewundern, führt mich das irgendwie zwangsläufig fast 20 Jahre zurück. In die Zeit, in der der Dark Knight das erste Mal zurückkehrte , besser als heute, und in der erzählerische Schritte in einem Medium getan wurden, die das Kino bis heute nur teilweise nachvollziehen kann und will.

Es war wohl etwa 1987, als ich, damals 14-jährig, beim Blättern im profil meiner Mami einen Artikel fand, der mein Interesse erweckte. Comics seien nicht mehr nur Comics, jene lange verdammte und immer belächelte "Kunstform", die keine war, sondern etwas anderes: Graphic Novels, also visuelle Romane, die mit intelligenten Themen und für Erwachsene konzipiert endlich als fast gleichberechtigte literarische Kunstform gelten könnten. Anlass des Artikels war "Watchmen", eine GraphicNovel von Alan Moore und Dave Gibbons. Ich fuhr per Zug (fast extra deshalb) nach Wien, wanderte in die Zollergasse zum führenden , weil einzigen Comicladen der Stadt, ins Comic Forum, und kaufte mir das englische Original um damals unerhört schweinisch teure 212 Ösen.Telefonisch hatte ich es Wochen zuvor extra bestellt und reserviert.

Und Watchmen ist in mancher Hinsicht noch heute eines der beeindruckendsten Bücher, das ich gelesen habe.

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tamtam gaming: Reality Cracking: Die Welt hinter dem Bildschirm

 Simulation und Realität - im Computerspiel wie in der Science Fiction stehen diese scheinbaren Gegensätze in komplexen Zusammenhängen. Je realer die virtuellen Welten werden, desto mehr verwischen sich die Grenzen - ein Topos der SF, der selbst immer mehr Wirklichkeit wird. ExistenZ, The Matrix, Cyberspace, Metaverse, Second Life, Holodeck - mein altes Steckenpferd, "Realität und Fiktion sind ununterscheidbar" , reitet auch und besonders durch die "neuen Medien". (Das Essay "Die Welt hinter dem Bildschirm" wurde für Telepolis anlässlich des Informatikjahres in der Reihe "what if" veröffentlicht.)

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SF-Sommer II: Shadow & Claw

Gene Wolfe: Shadow & ClawGene Wolfe: Shadow & Claw. The First Half of the Book of the New Sun.

Obwohl der Sommer momentan Pause hat, eignet sich das momentane Wetter bestens dazu, auf der Couch mit einem Buch zu versinken. Und nur, weil's regnet und oktoberhaft ist, beendet das noch lange nicht den hier kürzlich ausgerufenen Summer of SF. SF steht bei literarisch anspruchsvolleren Lesern inzwischen für "Speculative Fiction" - ein intellektuelles Trostpflaster für alle, die ihre erwachsen gewordene Jugendliebe nicht unbedingt mit der Masse an Schund-SF in einen Topf werfen wollen. Und The Book of the New Sun ist zweifellos zuallererst Literatur, sehr gute und anspruchsvolle  noch dazu, und wird erst im zweiten Schritt der Marktschubladisierung  dem stigmatisierten Genre der Science Fiction zugerechnet - nicht zu Unrecht wurde dieses Buch aber auch als "Ulysses of Science Fiction" (Amazon-Review) bezeichnet.

Ein tamtam-Lesegeheimtipp für all jene, die vor sprachlich wunderschöner, anspruchsvoller und herausfordernder Literatur nicht zurückschrecken und offen genug sind, diese auch außerhalb der anerkannten Schubladen entdecken zu wollen. >> Weiterlesen »