SF-Sommer II: Shadow & Claw
Gene Wolfe: Shadow & Claw. The First Half of the Book of the New Sun.
Obwohl der Sommer momentan Pause hat, eignet sich das momentane Wetter bestens dazu, auf der Couch mit einem Buch zu versinken. Und nur, weil's regnet und oktoberhaft ist, beendet das noch lange nicht den hier kürzlich ausgerufenen Summer of SF. SF steht bei literarisch anspruchsvolleren Lesern inzwischen für "Speculative Fiction" - ein intellektuelles Trostpflaster für alle, die ihre erwachsen gewordene Jugendliebe nicht unbedingt mit der Masse an Schund-SF in einen Topf werfen wollen. Und The Book of the New Sun ist zweifellos zuallererst Literatur, sehr gute und anspruchsvolle noch dazu, und wird erst im zweiten Schritt der Marktschubladisierung dem stigmatisierten Genre der Science Fiction zugerechnet - nicht zu Unrecht wurde dieses Buch aber auch als "Ulysses of Science Fiction" (Amazon-Review) bezeichnet.
Ein tamtam-Lesegeheimtipp für all jene, die vor sprachlich wunderschöner, anspruchsvoller und herausfordernder Literatur nicht zurückschrecken und offen genug sind, diese auch außerhalb der anerkannten Schubladen entdecken zu wollen. >>
Man soll ja bekanntlich den Sprüchen auf den Covern nicht glauben, aber das Lob, das Gene Wolfe für seine ab 1981 erschienene Tetralogie erhalten hat, ist doch relativ spektakulär: "the finest piece of literature American Science Fiction has yet produced" (Chicago Sun-Times), "contains elements of Spenserian allegory, Swiftian satire, Dickensian social consciousness and Wagnerian mythology... Wolfe creates a truly alien social order that the reader comes o experience from within" (New York Times Book Review). "Gene Wolfe is the greatest writer in the English language alive today. Among living writers, there is nobody who can even approach Gene Wolfe for brilliance of prose, clarity of thought, and depth in meaning." (Michael Swanwick) "Though neither the most popular nor the most influential author in the sf field, Gene Wolfe is today quite possibly the most important. The inherent stature of his work is deeply impressive and he wears the fictional worlds of sf like a coat of many colors." (Encyclopedia of SF)
Nach dem Lesen der ersten beiden Bände, The Shadow of the Torture und The Claw of the Conciliator, muss man anerkennen, dass das Lob für diesen verwirrenden, grandiosen und komplexen Roman nicht allzu übertrieben ausgefallen ist. Dass Wolfe dennoch weitgehend unbekannt geblieben ist, ist dem Schmuddelimage der SF und dem hohen literarischen Anspruch des Autors geschuldet - zu "schwer" für SF-Leser, zu tief im Dickicht der SF versteckt für "ernsthafte" Leser.
Die Handlung folgt Severian, einem Schüler der Gilde der Folterer, in eine archaisch anmutende Welt der fernen Zukunft. Fast alle technischen Errungenschaften gehören einer lange versunkenen Zeit an und die Menschheit lebt in einer komplexen feudalen, mittelalterlich-frühneuzeitlichen Sozialordnung, während die Sonne schwächer und schwächer wird. Wolfe enttäuscht konsequent alle, die simple Handlungsstränge, große Schlachtgemälde oder einfache Charaktere erwarten würden. Vielmehr liest sich der in der Ich-Perspektive verfasste Lebensbericht Severians wie eine Mischung aus Hermann Hesses Glasperlenspiel, den phantastischen Miniaturen eines Jorge Luis Borges und dem Detailreichtum eines Thomas Pynchon.
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Kommentare
Nachtrag: literarischer Geheimtip II.
Man möge mir das freche Beposten eigener Artikel verzeihen, aber in der ehrwürdigen [URL=http://www.washingtonpost.com/ac2/wp-dyn?pagename=article&node=&contentId=A62473-2002Apr4]Washington Post[/URL] ist ein interessanter Artikel über Gene Wolfe. Der, wie ich nach Lektüre aller vier Bände von Book of the New Sun nur ausdrücklich bestätigen kann, es tatsächlich mit Thomas Pynchon, Gabriel Garcia Marquez und so manch anderen literarischen Schwergewichtern aufnehmen kann. Zitate aus dem Artikel:
"Should any reader be searching for an equal to Umberto Eco, look no further than the Gene Wolfe of the New Sun series. ... reading Wolfe is one of the greatest intellectual pleasures contemporary fiction affords. ... Modernist or postmodernist, formal allegorist or anatomist of the deepest complexities of the human soul, he is a wonder, yes, a genius, with a crooked lupine smile."
Schönste Literatur. Mein Buch des Jahres 2006 bisher.