Literatur

Buchtipp: Jeff VanderMeers "Southern Reach Trilogie"

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Um den Ankündigungen Taten folgen zu lassen: Seit langem wieder einmal ein Lesetipp. Disclaimer: Diese Rezension wurde zuerst auf fm4 gepostet.
 
Keine Menschen, wuchernde Natur und ein Geheimnis, das sich widerspenstig jeder Aufklärung entzieht: Willkommen in "Area X", einem riesigen Sperrgebiet, das nach einer nie näher genannten Katastrophe vor Jahrzehnten als geheimnisvolle Wildnis die Wissenschaft vor Rätsel stellt. Mit "Annihilation" (dt. Titel: "Auslöschung") nimmt uns der US-Autor und Herausgeber Jeff VanderMeer mit auf eine Expedition in eine verunsicherte Welt, die irgendwo ganz nahe, aber doch neben unserer liegt. Die "Southern Reach"-Trilogie ist, wie ihr Schauplatz, mit herkömmlichen Kategorisierungen schwer zu fassen: handfester Science-Fiction-Thriller, Horror, Fantasy, Mystery, psychologischer Roman und surrealer Grenzgang zwischen Hoch- und Genreliteratur.

Hier hat jemand H.P. Lovecraft wirklich gut verstanden.

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Falls jemand fragen sollte, wie H.P.Lovecraft so zu lesen ist: Der Post links gibt einen ziemlich perfekten Überblick.

Klick aufs Bild macht größer!

Neuer Moers!

Neuer MoersWie bereits vor fünf Jahren in seinem Zamonien - Roman "Die Stadt der träumenden Bücher" angekündigt, gibt es jetzt eine Fortsetzung des fantastischen Romans von Walter Moers. Hildegunst von Mythenmetz kehrt nach zweihundert Jahren in das prächtig wiederaufgebaute Buchhaim zurück. Das Warten hat ein Ende für alle Fans!

Der geniale und öffentlichkeitsscheue Moers zeichnet mit seinen Illustrationen und schreibt mit seinen Geschichten - Geschichte. Grotesk, lustig, gesellschaftskritisch und weise zugleich.

"Wenn man das Leben von oben betrachtet, erkennt man die großen Zusammenhänge!" ließ er uns schon 1999 von seinem blauen Mittelsmann ausrichten.

Neulich: Interview mit Arundhati Roy

Lesestoff für den Wochenstart: DIe indische Schriftstellerin Arundhati Roy im ZEIT-Interview über Auswege aus der Sinn-, Politik- und Kapitalismuskrise. Eine kluge Frau.

Snip:

Das Moralisieren ist sinnlos. Wozu soll ich die Leute davon überzeugen, nicht zu shoppen? Die westliche Welt wird sich doch erst verändern, wenn diejenigen, die mit dem Rücken zur Wand stehen, diese Veränderung erzwingen.  ... Es geht nicht darum, Wohlstand zu opfern und dann unglücklich zu sein. Es geht darum, sich diesen Wohlstand gar nicht erst zu wünschen.

McSweeney's Internet Tendency

mcsweeney.jpg Es gibt Orte im Netz, die sind so witzig, dass man sich fassungslos fragt, wie man sie bisher versäumen konnte. McSweeney's Internet Tendency  ist so ein Ort.

McSweeney's ist ein kleiner amerikanischer Independent-Verlag, der mehrere periodische Publikationen und einige Bücher im Programm hat. "Internet Tendency" ist sozusagen der 2.0-Ableger: eine Veröffentlichungsplattform, auf der sich verschiedenste talentierte Autoren versuchen können. 

Wie im angloamerikanischen Literaturbetrieb üblich, wo "Outrageously funny" ein Qualitätsurteil für ernstzunehmende Literatur sein darf, sprühen die hier veröffentlichten Texte mit der kompakten Länge von maximal 1500 Worten nur so vor Witz und intelligentem Humor. Highlights: haarsträubende innere Monologe wie zB "A Hot Air Ballon Captain Addresses His Crew On The Eve Of A Very Important Hot Air Balloon Race " oder "Let's Listen To My Favourite Song Together " wechseln sich ab mit clever-absurden Miniaturen wie "I Am The Orson Welles Of Power Point " oder aber fantastischem Reisejournalismus aus der Feder von Kevin Dolgin.

Von Letzterem hier ein wunderbares Zitat aus einem Eintrag  zu Angkor Wat:

"I once met a cow," my friend said, as the sun grew lower in the sky, "who was very important in my life. It was when I was living in India. I was walking down a road in a village and I realized that a cow was walking next to me. I looked at the cow and the cow looked at me, and we just continued walking on our way. I started to think to myself, How is this creature different from me? She has a place she's going, I have a place I'm going. I was thinking about this as I walked along. After a while, the road came to its end and I turned right and she turned left. After a few steps I stopped and turned around to look at her and at that very moment, she stopped and turned around and looked at me."

He then stopped speaking and we both turned to the west to watch the sun dip below the distant trees. "I never forgot that," he said.

Nor will I.

Wer des Englischen nur ein bisschen mächtig ist: Hinschauen und stundenlang stöbern. Fantastischer Stoff hier!  Weiterlesen »

Bücherkaufen in Echtzeit

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Zur Erinnerung: Den Schiffsverkehr in Echtzeit  gibts schon eewig, mal ehrlich, das holt keinen alten Hund mehr hinter dem Ofen hervor (was ein alter Hund hinterm Ofen macht ... aber lassen wir das). DAS HIER  ist hingegen extrem superoberessenziell und extrem wichtig. In Kanada hat gerade jemand ein Buch über Antiislamismus bestellt, und in Norwegen wurde gerade ein Buch über englische Strickmuster geordert. In Brasilien hat grad wer was über Tarot gekauft! Aaaaaaah, wohlschmeckende, köstliche Information, sabber, geifer, gier. Pardon. Hab ich schon erwähnt, dass das in Echtzeit passiert? In Echtzeit!! Im Gegensatz zur billig aus dem ehemaligen Ostblock reingeschmuggelten Falschzeit , aber lassen wir das.

Falls man also wieder mal um vier Uhr früh munter wird und nicht mehr einschlafen kann weil man erfolglos darüber gegrübelt hat, was wohl gerade in Buttfuque, Ohio, bestellt wird: Rettung ist da! 

Und als Krönung, einfach so, hier  ein Bild von einem Igel, der ganz schön dumm in die Röhre schaut. Heut gibts wieder mal nur oberaffengeilen Content auf tamtam, aber echt.  Weiterlesen »

Schrägheit des Tages: Gustav Meyrinks Prophezeihungen

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Gustav Meyrink,  österreichischer Autor Anfang des 20. Jahrhunderts, allgemein am ehesten bekannt durch seinen phantastischen Roman "Der Golem", ist der Auto einer bemerkenswerten kleinen Science-Fiction-Geschichte "Petroleum, Petroleum", die 1903 für das Satiremagazin Simplicissimus verfasst wurde. (Hier  übrigens zur Gänze ab Seite 406 nachzulesen - da gibt's die komplette Sammlung "Des deutschen Spießers Wunderhorn" online. W00t!)
 
Kurz zusammengefasst geht's darin um den teuflischen Plan des sinsitren Superschurken Dr. Jessegrim, im Golf von Mexiko  durch Explosionen eine weltumspannende Ölpest auszulösen. Sowas. 
 
"Unterdessen floß das Petroleum, genau wie Dr. Jessegrim berechnet hatte, fleißig aus den unterirdischen Becken Mexikos ins Meer ab und bildete an der Oberfläche eine opalisierende Schicht, die sich immer weiter und weiter ausdehnte und, vom Golfstrom fortgetrieben, bald den ganzen Meerbusen zu bedecken schien. — — — Die Gestade waren verödet, und die Bevölkerung zog sich ins Innere des Landes zurück. —
.... »Wenn das Erdöl in dem Maße weiterströmt, wie bisher, so werden meiner Berechnung nach in 27—29 Wochen sämtliche Ozeane der Erde davon bedeckt sein und ein Regen in Zukunft für immer ausbleiben, da kein Wasser mehr verdunsten kann, — im besten Falle wird es dann nur Petroleum regnen.« — "
 

Leicht bizarres Addendum: Die Story beginnt mit folgendem Kommentar des Autors: "Um mir die Priorität dieser Prophezeihung zu sichern, stelle ich fest, daß folgende Novelle im Jahre 1903 geschrieben wurde. Gustav Meyrink". WTF. Weiterlesen »

Paolo Bacigalupi: The Windup Girl

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Jeder kennt's vom Namen, die wenigsten haben's gelesen, und das ist Jahrzehnte her: "Neuromancer" von William Gibson ist ein Buch, das an Wichtigkeit schwer zu überschätzen ist. Heute, stolze 26 Jahre nach Erscheinen, ist Gibsons Werk beim erneuten Lesen frisch wie wenige andere. Und das liegt nicht am "Cyberspace", den der Amerikaner damals quasi nebenbei als weltumfassendes Netzwerk prophezeite, sondern an etwas ganz anderem: Wie wenige Autoren zuvor ließ Gibson die ganze Welt als vielschichtiges, ungleichzeitiges Kontinuum zum Schauplatz seiner SF werden, wurden Tokyo, Istanbul und Finnland zu exotischen Orten mit unterschiedlichen Technologiehorizonten. Es gibt nicht nur eine Zukunft - es gibt viele, in unterschiedlichen Graden, die auf unterschiedlichen Vergangenheiten aufbauen.

Dieser Schritt in die reale Welt, weg vom Outer Space oder dem panamerikanischen Futurismus, wird erst in letzter Zeit von seinen Nachfolgern so richtig nachvollzogen. Aktuelles Beispiel: der diesjährige Nebula-Award-Gewinner Paolo Bacigalupi.

"The Windup Girl" spielt in dem, was nach großen ökologischen und technologischen Apokalypsen von Thailand und dem Rest der Welt übrig ist. Umweltkollaps und Gentechnik-Katastrophen haben die Welt verändert, doch der Mensch als Spezies existiert und ändert sich nicht im Zeitrahmen von Quartalen, Jahren oder gar Jahrzehnten - so ergibt sich, wie bem hierorts bereits einmal besungenen Ian McDonald und seinem Indien-SF-Trip "River of Gods" , ein beeindruckender Flickenteppich aus Futurismus und Tradition, aus Südostasien und Postglobalisierung, aus Chaos und Beharren. Dabei verfällt Bacigalupi nicht in simple Dritte-Welt-plus-Science-Fiction-Exotik, sondern lässt, wie McDonald in seinem Buch über den 100. Geburtstag Indiens, eine beeindruckende Kenntnis von Philosophie, Mentalität und sozialen Verhältnissen seines Schauplatzes erkennen. Wie schon immer gepredigt: SF zeigt die Gegenwart, nicht die Zukunft.

Neben Bacigalupi und McDonald erweitert sich das Feld der Science-Fiction durch die globale Vernetzung übrigens deutlich. Wer Lust bekommen hat, die globalisierten Zukunftsvisionen aus unterschiedlichsten Perspektiven zu sehen, sollte einen Blick auf die Short-Story-Anthologie The Apex Book of World SF werfen, in dem SF-Autoren aus China, Israel, Thailand, Malaysia, Serbien und Indien, um nur einige zu nennen, ihre zum Teil in den eigenen Sprachen vielfach prämierten Texte auf Englisch versammeln.

EDIT: Coincidence: "New Weird" -herausgeber Jeff VanderMeer hat gerade für Locus Online eine Liste der besten internationalen SF-Autoren aus dem nicht-englischen Sprachraum zusammengestellt. nice. (via BoingBoing ). Weiterlesen »

#3

Das Taxi biegt um die Ecke. Sie wird gegen die Tür gedrückt, sie ist nicht angeschnallt. Hatte es vergessen und wird sich auch bis zum Aussteigen nicht daran erinnern. Was sollte sie den Leuten sagen? Sie wusste, dass sie die Wahrheit nicht glauben würden, so wie sie sie zuerst nicht glauben wollte. Also brauchte sie eine glaubwürdige Lüge.

Sie musste rasch handeln, denn es blieb keine Zeit mehr. Hatte sie Geld dabei? Sie kramt in ihrer Manteltasche, zwei Zehneuroscheine werden reichen… aber Moment, das war gar nicht ihr Mantel.

Sie war viel zu hastig aus dem Lokal aufgebrochen, nachdem ihr Wender ausgerechnet im Spiegel der Damentoilette aufgelauert hatte. „Na, hast Du mich vermisst?“ „Geh weg, oder…“ „Oder was? Willst Du mir drohen, mein Schatz?“ Er war sichtlich bester Laune und ohne Sorge, dass sie ihm je entkommen würde. Aber sie hatte einen Plan, von dem er, wie sie hoffte, noch nichts wusste. Sie hatte ihn damals gerufen, ja, aber sie konnte ihn auch wieder los werden. Wenn  alles klappte.

Der Wagen hält vor dem großen Tor der Klinik und sie steigt aus. Ihr ist mulmig und kalt. Werden sie ihr glauben? Und was, wenn nicht? „Guten Abend, meine Dame, Sie wünschen?" Weiterlesen »

Steven Erikson: The Malazan Books of the Fallen

 Nach Tolkien und dem LotR-Hype schien es, als wäre ausgerechnet jene Literaturgattung, die die Fantasie im Namen führt, so hausbacken und vorhersehbar geworden wie sonst nur Rosamunde Pilcher. Gute Könige, böse Könige, Elfen, Zwerge, Drachen, erzböse Dämonenzauberer, die das Ende der Welt herbeiführen wollen: gähn. Kein Wunder, dass das Genre Fantasy einen ähnlich guten Ruf hat wie der "Bergdoktor", von genialen Eigenbrötlern wie Walter Moers einmal abgesehen. Gegen das, was die Fantasy an Infantilitäten anzubieten hat, lässt sich sogar das sonst auch nicht besonders gut beleumundete Nerd-Lieblingsgenre Science-Fiction noch als cool verkaufen.

Und dann fällt mir im Sommer in einem Second-Hand-Buchladen "Gardens of the Moon" von Steven Erikson in die Hände. Der Kanadier, der vor seiner Karriere als Autor akademisch in Archäologie und Ethnologie tätig war, schreibt fantastische Epik, die so tiefgründig, spannend und realistisch-komplex ist, dass wohl nur die breiteste Leinwand dafür ausreicht: Die Welt des Malazanischen Imperiums ist so differenziert, so vielfältig und zugleich so fantastisch, dass man als Leser sogar die gewohnt infantile Covergestaltung und die gewaltige Masse an Lesestoff in Kauf nimmt, um in eine Welt einzutauchen, die sich aus buchstäblich hunderten Standpunkten nur schrittweise enthüllt.    Weiterlesen »