Jeder kennt's vom Namen, die wenigsten haben's gelesen, und das ist Jahrzehnte her: "Neuromancer" von William Gibson ist ein Buch, das an Wichtigkeit schwer zu überschätzen ist. Heute, stolze 26 Jahre nach Erscheinen, ist Gibsons Werk beim erneuten Lesen frisch wie wenige andere. Und das liegt nicht am "Cyberspace", den der Amerikaner damals quasi nebenbei als weltumfassendes Netzwerk prophezeite, sondern an etwas ganz anderem: Wie wenige Autoren zuvor ließ Gibson die ganze Welt als vielschichtiges, ungleichzeitiges Kontinuum zum Schauplatz seiner SF werden, wurden Tokyo, Istanbul und Finnland zu exotischen Orten mit unterschiedlichen Technologiehorizonten. Es gibt nicht nur eine Zukunft - es gibt viele, in unterschiedlichen Graden, die auf unterschiedlichen Vergangenheiten aufbauen.
Dieser Schritt in die reale Welt, weg vom Outer Space oder dem panamerikanischen Futurismus, wird erst in letzter Zeit von seinen Nachfolgern so richtig nachvollzogen. Aktuelles Beispiel: der diesjährige Nebula-Award-Gewinner Paolo Bacigalupi.
"The Windup Girl" spielt in dem, was nach großen ökologischen und technologischen Apokalypsen von Thailand und dem Rest der Welt übrig ist. Umweltkollaps und Gentechnik-Katastrophen haben die Welt verändert, doch der Mensch als Spezies existiert und ändert sich nicht im Zeitrahmen von Quartalen, Jahren oder gar Jahrzehnten - so ergibt sich, wie bem hierorts bereits einmal besungenen Ian McDonald und seinem Indien-SF-Trip "River of Gods" , ein beeindruckender Flickenteppich aus Futurismus und Tradition, aus Südostasien und Postglobalisierung, aus Chaos und Beharren. Dabei verfällt Bacigalupi nicht in simple Dritte-Welt-plus-Science-Fiction-Exotik, sondern lässt, wie McDonald in seinem Buch über den 100. Geburtstag Indiens, eine beeindruckende Kenntnis von Philosophie, Mentalität und sozialen Verhältnissen seines Schauplatzes erkennen. Wie schon immer gepredigt: SF zeigt die Gegenwart, nicht die Zukunft.
Neben Bacigalupi und McDonald erweitert sich das Feld der Science-Fiction durch die globale Vernetzung übrigens deutlich. Wer Lust bekommen hat, die globalisierten Zukunftsvisionen aus unterschiedlichsten Perspektiven zu sehen, sollte einen Blick auf die Short-Story-Anthologie The Apex Book of World SF werfen, in dem SF-Autoren aus China, Israel, Thailand, Malaysia, Serbien und Indien, um nur einige zu nennen, ihre zum Teil in den eigenen Sprachen vielfach prämierten Texte auf Englisch versammeln.
EDIT: Coincidence: "New Weird" -herausgeber Jeff VanderMeer hat gerade für Locus Online eine Liste der besten internationalen SF-Autoren aus dem nicht-englischen Sprachraum zusammengestellt. nice. (via BoingBoing ). Weiterlesen »