WendersWelt

#3

Das Taxi biegt um die Ecke. Sie wird gegen die Tür gedrückt, sie ist nicht angeschnallt. Hatte es vergessen und wird sich auch bis zum Aussteigen nicht daran erinnern. Was sollte sie den Leuten sagen? Sie wusste, dass sie die Wahrheit nicht glauben würden, so wie sie sie zuerst nicht glauben wollte. Also brauchte sie eine glaubwürdige Lüge.

Sie musste rasch handeln, denn es blieb keine Zeit mehr. Hatte sie Geld dabei? Sie kramt in ihrer Manteltasche, zwei Zehneuroscheine werden reichen… aber Moment, das war gar nicht ihr Mantel.

Sie war viel zu hastig aus dem Lokal aufgebrochen, nachdem ihr Wender ausgerechnet im Spiegel der Damentoilette aufgelauert hatte. „Na, hast Du mich vermisst?“ „Geh weg, oder…“ „Oder was? Willst Du mir drohen, mein Schatz?“ Er war sichtlich bester Laune und ohne Sorge, dass sie ihm je entkommen würde. Aber sie hatte einen Plan, von dem er, wie sie hoffte, noch nichts wusste. Sie hatte ihn damals gerufen, ja, aber sie konnte ihn auch wieder los werden. Wenn  alles klappte.

Der Wagen hält vor dem großen Tor der Klinik und sie steigt aus. Ihr ist mulmig und kalt. Werden sie ihr glauben? Und was, wenn nicht? „Guten Abend, meine Dame, Sie wünschen?" Weiterlesen »

wender schlägt zu

 Ihre erste Begegnung mit Wender war einschneidend, aber unspektakulär. Er war da, immer wieder, er sprach nicht mit ihr, sah sie nur an.

Und sie sah ihn an, nicht zu lange, um sich nicht zu verraten, um geschützt zu bleiben.

Doch er wusste davon, oder zumindest nahm sie das an.

Und dann trafen sie doch aufeinander und er sagte: „ Komm, ich zeig dir etwas, das du nicht sehen kannst.“ Sie wollte zunächst nicht und wollte doch, sträubte sich, schloss die Augen fest, schloss die Lippen, schloss das Herz. Sie verletzte sich dabei in der unsichtbaren Spiegelung und ihr Schutzbann war gebrochen, das spürte sie. Der Widerstand schmolz. Sie setzte sich an den Tisch und ihre Schultern sanken. „Ich bin so müde, ich kann nicht weg“. „Dann bleib“, sagte Wender.

„Warum ist diese Welt so ganz anders, als wir sie uns vorstellen ?“, fragte sie ihn, als er sie umklammerte. „Es gibt keinen Weg zurück,“ sagte Wender lächelnd, „Ich mache jetzt meine Augen zu und sehe ein Welt, die wunderbar ist.“ Weiterlesen »

#3537245

 Die Luft steht still in der alten Wohnung, hoch ragen die leeren Wände. Staubige Gedanken räkeln sich langsam wie in zähflüssigem Honig in den einzelnen Sonnenstrahlen, die durch die zerschlissenen Stoffvorhänge in den Raum fallen. Nur das leise Rascheln von Papier, aus dem hintersten Zimmer kommend, verrät Stein, dass er gefunden hat, wonach er suchte. Langsam, vorsichtig stößt er die Flügeltür auf, ein Geruch von Mottenkugeln, Dachbodenstaub und, natürlich, Nelken verbeißt sich in Steins Nase, dann in seinem Rachen und erfüllt seine Lungen mit einem betäubendem Brennen.

Das Regal erstreckt sich über die ganze Wand und ragt drei Meter hoch auf, die meisten der Bücher sind noch da, doch mehrere Lücken blecken sich wie die ausgefallenen Zähne eines mehrreihigen Rachens. Das Rascheln kommt aus der Ecke des Raumes, hoch oben, auf dem obersten Rahmen des Regals unter der leicht geschwärzten Decke, doch es verstummt, als Stein sich räuspert und endgültig den Raum betritt. Die schwarzen Augen des Bibliothekars, die wie winzige dunkle Murmeln unmittelbar nebeneinanderliegen, mustern Stein mit undeutbarer Konzentration, während einer der vier dürren, mehrfach gebrochenen und in schmerzhaft anzusehenden Winkeln zusammengewachsenen Arme in der Bewegung innehält, die eben herausgerissenen Seite des Buches auf halbem Wege zwischen dem Regal und dem reglos geöffneten Mund mit den winzigen, nadeldünnen Zähnen.

- Guten Appetit, sagt Stein und blickt sich um. Tief unter dem achtbeinigen Bibliothekar türmt sich ein kleiner Haufen Papierfetzen auf einem alten Polstersessel. - Du erlaubst? Ohne die Antwort abzuwarten rückt Stein das Möbel vor das aufragende Regal, streift die intensiv nach Nelken riechenden Überreste des Mahls zu Boden und nimmt Platz, den Kopf zurückgelegt, um den hoch über ihm thronenden Bibliothekar zu mustern, der langsam sein Mahl fortsetzt. Mit einer komplizierten Bewegung verkeilen sich vier Beine, in schwarze, fadenscheinige  Hosen gehüllt, zwischen Decke, Wand und Regal, während drei der untätigen Arme locker herabhängen. Leise rieseln Papierfetzen zu Boden, bis Stille einkehrt.

Die Stimme des Bibliothekars ist hoch und kratzig. - Der Zweite Geheime Sarkast des Unsichtbaren Hofes, sieh an. Was verschafft mir die unerwartete Ehre, Stein? 

Stein lächelt. - Wie überaus liebenswürdig. Ich erinnere mich an unser letztes Treffen, das etwas an Zivilisiertheit zu wünschen ließ ... Wie geht es dem Arm?- Der Bibliothekar zischt und verschränkt seine vier Arme vor seiner schmalen Brust. - Genug geplaudert, Stein.

-Nun gut. Stein steht auf. - Wir haben Wender gefunden. Weiterlesen »

#7654

 Was die Welt von Wender weiß, ist nicht die Wahrheit. Es ist auch nicht die Unwahrheit; die Dinge sind nicht so einfach, wenn es um Wender geht und um die Dinge, die er mir gesagt hat.

Wenn wir alle in einem Labyrinth lebten, so hat Wender mir gesagt, in einem Laybyrinth, dessen Ausmaße so gewaltig sind, dessen Komplexität so groß ist, dass wir nur mit Glück, durch Zufall oder Mühe erkennen, dass wir uns überhaupt darin befinden, dann würden wir es nie verlassen, sondern darin leben, ohne auf den Gedanken zu kommen, es gäbe einen Weg hindurch.

Wohin würde dieser Weg auch führen -- ins Innere des Labyrinths oder daraus hinaus? Die Welt ist ein Labyrinth, tatsächlich, sagte mir Wender, und in seinen Pfaden und Sackgassen findet unser Leben Platz. Manche von uns, sagte Wender und blickte mir spöttisch in die Augen, manche von uns leben an seinen Kreuzungen, wo ein Pfad vielleicht an ein Ziel führt, der andere in eine lange, verwinkelte Sackgasse, in der wir uns heimisch niederlassen, um die erdrückenden Wände um uns als unsere Horizonte, die Irrwege um uns als unsere Möglichkeiten anzuerkennen.

Dieser Typ treibt mich noch in den Wahnsinn, sagte Claire und stellte mit einem Stirnrunzeln ihr Weinglas am Geländer der Aussichtsplattform ab. Große Worte, und nichts dahinter. Ich kenne den Typ von Rattenfänger.Pass bloß auf, murmelte sie, pass bloß auf. Weiterlesen »

#1782

 Ich muss darauf achten, dass ich dem Spiegel entkomme, nicht in sein Blickfeld gerate, keinen Augenkontakt aufnehme ... gestern habe ich darin versagt.

Ich weiß nicht, wie lange ich vor ihm stand, gebannt durch seinen Blick, durch seine unerbittlichen Augen, die jeder meiner Bewegungen folgten. Nach Stunden war sein Interesse plötzlich erloschen und er wandte sich mit einem Ausdruck der Abscheu ab und brach den Bann, den sein Blick aus diesen dunklen Augenhöhlen auf mich ausübt. Meine Beine zitterten und ich musste mich mit wackligen Knien auf den schmutzigen Terracottaboden setzen, die aufgerissenen, roten Augen starr vor Erschöpfung, bis ich mich nach unbestimmter Zeit mit dem Rücken zum Spiegel mühsam wieder aufrichten konnte.

Als ich dort stand, ihm meinen Rücken zukehrend, wurde mir mit grausamer Sicherheit klar, dass er mich aus dem Spiegel weiter beobachtete, dass ich, wenn ich mich umdrehen würde, im sinnlos tapferen Versuch, diese absurde Gewissheit zu zerstören, ihm direkt in diese schwarzen Augen starren würde, mich erneut in seine Gewalt begeben würde. So stand ich mit gesenktem Kopf und verkrampften Händen mit dem Rücken zum Spiegel und spürte in meinem schweren Atem, wie sein Blick sich in meine hochgezogenen Schulterblätter bohrte, er mich mit diesen fremden Augen in meinem Gesicht abschätzig musterte ... schließlich brachte ich die Kraft auf, mich ohne einen Blick zurück langsam und mit schmerzenden Beinen aus diesem Gang des Hauses zu entfernen, wo ich Wender wieder gefunden hatte und er mich. Weiterlesen »

Wenders Welt: Roman in Fragmenten -- LAUNCHED!

Nach langen Jahren des Winterschlafs startet ab sofort "Wenders Welt". Im Menü links gibts den neuen Menüpunkt, ein Klick darauf führt zu den Texten, im Menü selbst erscheint bei Klick ein FAQ und der Link zum Mitmachen.

Was ist Wenders Welt? Hier die FAQ-Version, hier die Ganz-Lang-Schwurbelfassung, das alles kurz zusammengefasst etwa so: Wer will, kann hier anonym unter dem freien Pseudonym "wender" eigene Texte präsentieren, die sich - so die Idee - im Idealfall zu einem Roman in Fragmenten verdichten können. Keine "Schreib weiter"-Geschichte, sondern ein Kaleidoskop an Einzelteilen, die - man wirds sehen - vielleicht, aber vielleicht auch nicht um einen gemeinsamen Kern kreisen. What happens, happens. Jeder ist willkommen, aber keiner wars. Ausloggen, als Wender einloggen, Text schreiben, der admin veröffentlicht diesen dann kurz darauf. Wender wieder ausloggen, fertig. Go! Weiterlesen »