Buchtipp: Jeff VanderMeers "Southern Reach Trilogie"

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Um den Ankündigungen Taten folgen zu lassen: Seit langem wieder einmal ein Lesetipp. Disclaimer: Diese Rezension wurde zuerst auf fm4 gepostet.
 
Keine Menschen, wuchernde Natur und ein Geheimnis, das sich widerspenstig jeder Aufklärung entzieht: Willkommen in "Area X", einem riesigen Sperrgebiet, das nach einer nie näher genannten Katastrophe vor Jahrzehnten als geheimnisvolle Wildnis die Wissenschaft vor Rätsel stellt. Mit "Annihilation" (dt. Titel: "Auslöschung") nimmt uns der US-Autor und Herausgeber Jeff VanderMeer mit auf eine Expedition in eine verunsicherte Welt, die irgendwo ganz nahe, aber doch neben unserer liegt. Die "Southern Reach"-Trilogie ist, wie ihr Schauplatz, mit herkömmlichen Kategorisierungen schwer zu fassen: handfester Science-Fiction-Thriller, Horror, Fantasy, Mystery, psychologischer Roman und surrealer Grenzgang zwischen Hoch- und Genreliteratur.
VanderMeer gilt als einer der Hauptvertreter des "New Weird", einer literarischen Untergattung zeitgenössischer Phantastik, die die Genres Horror, Science-Fiction und Fantasy auf originelle - und charakteristisch unscharfe - Weise in eins denkt. Anfang der Nullerjahre fand sich VanderMeer mit seinem damals schmalen Werk nicht nur als Autor, sondern auch als Kompilator der namensgebenden Anthologie "The New Weird" in der jungen Nische wieder.
 
Der erste Band der jüngsten Trilogie, "Annihilation", geht gleich in medias res: Seit mehreren Jahrzehnten behüten Armee und die geheime Regierungsorganisation "Southern Reach" den Zugang zum menschenleeren Sperrgebiet. Die zwölfte Expedition - alle vorhergegangenen scheiterten mehr oder weniger spektakulär - bricht ebenso ins Ungewisse auf. Ohne modernes Gerät finden sich die zu Beginn vier Expeditionsteilnehmerinnen, allesamt Frauen, in der trügerisch friedlichen Wildnis südlich der "Grenze" wieder.
 

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Der Übergang nach "Area X" erfolgt unter Hypnose, und auch sonst trüben immer wieder verstörende Ereignisse den anfänglichen Optimismus. Ein mysteriöser "Turm" mitten in der Wildnis führt wie ein Schacht ins Erdinnere, Bewusstseinstrübungen machen sich bemerkbar und auch das Vertrauen der Frauen zueinander wird zunehmend brüchig. In nüchterner Sprache beschreibt VanderMeer aus der Sicht der namenlosen Biologin die Ereignisse der Expedition. Was sich im Verlauf der schrittweisen Reise ins Innere des Geheimnisses ereignet, soll hier nicht vorweggenommen werden - nur so viel: Das Unheimliche tritt nicht in Form von schnöden Monstern auf, sondern deutet sich einerseits in kleinen, fast banalen Differenzen zur "Normalität" an, um schließlich, in wenigen Szenen, ins unbenennbar Groteske zu kippen.
 
Auch "Authority", Band zwei, führt die Handlung des verstörend-spannenden Openers nur indirekt weiter, denn nun zeigt uns Jeff VanderMeer den Blick von außen: Der neue Leiter der Regierungsbehörde "Southern Reach" hat sich nicht nur mit der immer in beunruhigender Nähe liegenden Sperrzone, sondern auch mit dem kafkaesken Bürokratieapparat von Armee und Behörde zu arrangieren, während aus der Distanz das Schicksal nicht nur der in "Annihilation" ins Ungewisse aufgebrochenen Expeditionsteilnehmer fassbarer wird.
 
Der abschließende Band, programmatisch "Acceptance" betitelt, schafft schließlich das Kunststück, ein Ende zu finden, ohne sein Mysterium banal totzuerklären; wie sich hier die Fäden nicht nur der ersten Bände, sondern auch der Vorgeschichte zu einer albtraumhaften Collage zusammenfügen, ist ein Meisterstück von subtilem Horror. Von "Lost" Traumatisierte seien beruhigt: Weder wird zu viel noch zu wenig erklärt - VanderMeer gelingt es, die Aura des Geheimnisvollen zu bewahren, ohne seine Leser unbefriedigt zurückzulassen.
 

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Auch der originelle Veröffentlichungsrhythmus ist ein Experiment: Die drei Bände "Annihilation", "Authority" und "Acceptance" erschienen im Original von Frühjahr bis Herbst im Abstand von nur wenigen Monaten. Die deutsche Übersetzung des ersten Bandes im Kunstmann Verlag im Kunstmann Verlag ist soeben vollständig erschienen - auf Englisch gibt es inzwischen einen Sammelband.
 
Auch wenn man alle drei Teile gerne atemlos verschlingt, ist Jeff VanderMeer mehr gelungen als bloße Spannungsliteratur. Wie Schlingpflanzen kolonisieren VanderMeers langsame Apokalypsen auch die Fantasie des Lesers. Der Autor baut subtil scheinbar gewöhnliche Alltäglichkeiten auf, hinter denen, durch perfekte Mimikry getarnt, das Andere wartet. Diese kontinuierliche Auflösung aller scharf gezogenen Grenzen, sowohl geografisch als auch biologisch und persönlich, ist das große Thema der Trilogie, und schon die Konsequenz, mit der ebenjener titelgebenden "Acceptance" entgegengegangen wird, ist bemerkenswert.
 
Als literarischer Genreautor hat man es oft schwer, beide Seiten - anspruchsvolle Leser und Fans der Phantastik - gleichermaßen zufriedenzustellen. VanderMeer wird beiden gerecht. Doch Vorsicht: Auf richtig solidem Boden stehen Leser wie Figuren in "Area X" niemals. Die "Southern Reach Trilogy" ist ein gelungener Grenzgang für anspruchsvolle Leser.