Man vergisst es hin und wieder: Der Mensch ist ein Geschichtentier, unfähig, seine Weltsicht NICHT in die Narration zu binden. Kaum sind wo zwei zusammen, werden die Rollen verteilt, die Motivationen zugeordnet und die großen Plots geschmiedet. Mein alter Lieblings-Crackpot-Scientist Julian Jaynes bezeichnete ja die Fähigkeit, Metaphern zu bilden, als Grundvoraussetzung für das, was wir gemeinhin so als Bewusstsein bezeichnen, aber man könnte ganz poetisch noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass das, was uns als Menschen ausmacht, das Erzählen ist - und sei es, als Minimalvariante, nur das Erzählen unserer eigenen "Lebensgeschichte" in Form von Erinnerungen in den kleinen Wunderkammern, die wir unser Gehirn nennen.
Der Anlass für diese lyrischen Überlegungen ist dieses Poster, das "42 essential plot-twists" darstellt. Möglicherweise bin ich durch das Arbeiten mit einem systematischen Werk verdorben, das die gesamte Volksliteratur noch Motiven aufschlüsseln wollte, der Motif-Index of Folk Literature von Stith Thompson, doch ich kann dem Gedanken viel abgewinnen, dass sich unser narratives Denken an solchen einfachen, tja, Motiven orientiert, die wir von Kindesbeinen an mit der Sprache eingeflößt bekommen. Der Zweck von Märchen für Kinder könnte somit darin liegen, dass sie dem Menschen ein narratives Basisprogramm ermöglichen, das sich tief in unser Erzählen eingräbt: Der dritte, jüngste Sohn triumphiert, wo die zwei älteren versagten; List überwindet rohe Gewalt; getrennte Liebende werden am Ende vereint; die Übertretung von Tabus wird bestraft.
Ob das Erzählen hyperkomplex ist, wie Thompson oder auch das Poster nahelegen, oder eigentlich ganz simpel, wie etwa der Narratologe Christopher Booker in seinem berühmten Buch "The Seven Basic Plots" beschreibt, muss jeder mit sich selbst ausmachen. Ich persönlich tendiere zu beidem.;-)