Der Popstar der Globalisierungskritik, Naomi Klein, musste viel Kritik wegen ihres neuen Werkes einstecken. Zu oberflächlich, nicht zwingend argumentiert, keine Gegenvorschläge, zu plakativ, so wurde gejammert. Der Interviewer der Zeit ließ sich in seinem tendenziösen Interview mit der Kanadierin, Autorin des Bestsellers "no Logo", sogar dazu hinreißen, sie eingangs zu fragen, ob sie "noch alle Tassen im Schrank" hätte. Die Argumente der Kritiker sind jedoch beim Lesen des 700-Seiten-Werkes schnell vergessen. "DIe Schock-Strategie" leistet nichts weniger als die verborgene Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, die politische Biografie des Siegeszuges der Globalisierung. Alleine aus diesem Grund ist das Buch jedem zur Lektüre anzuempfehlen - praktisch undogmatisch, atemberaubend spannend und zugleich angsteinflößend. Dass die Rezensenten der Wirtschaftsressorts, die sich des Buches als teils harsche Kritiker annahmen, in den Universitäten selbst bereits das von Klein attackierte System als "ewige Wahrheiten" eintätowiert bekommen hatten, spricht somit nicht gegen das Buch - im Gegenteil.
Angreifbar macht sich Klein vor allem wegen ihres "Plots" und Aufhängers : Es geht um den Siegeszug des "absoluten" Laissez-faire-Kapitalismus nach dem Muster Milton Friedmans und seiner Schüler, etwa der "Chicago Boys " , der tatsächlich in den umfassend dokumentierten Fallbeispielen im Gefolge politischer, humanitärer oder wirtschaftlicher Krisen in der Regel in "Schocktherapie" eingeführt wurde - von Pinochets Chile über Argentinien, Thatchers Großbritannien, China, Südafrika, Polen, Indonesien bis zurück in die USA nach 9/11 führt die schlüssige Untersuchung. Kleins poetische und titelgebende Gegenüberstellung der wirtschaftlichen "Schocktherapie" mit der tatsächlichen Elektroschockbehandlung - in Medizin und Folter - ergibt zwar ein schaurig-schönes, philosophisch auch schlüssiges Bild, lenkt aber doch eher von der üppig recherchierten und genauen Beschreibung der Wirtschaftsgeschichte der Welt seit 50 Jahren ab - und just darauf reitet die Kritik herum.
Ein weiterer Vorwurf ist zu entkräften: Klein zeigt ihr gewähltes Thema - letztlich den SIegeszug des Marktes über die Menschen - zwar in konzentrierter Auswahl in Hinblick auf ihr Anliegen, wird dabei aber nicht simplizistisch und verfällt weder in links-utopische Besserwisserei noch in altkluge Weltverbesserungsrhetorik - was ihr ironischerweise wiederum den Vorwurf einbrachte, keine konkreten Alternativen anzubieten.
"Die Schock-Strategie" ist entgegen dem plakativen Untertitel nicht nur Beschreibung des "Katastrophen-Kapitalismus", sondern vielmehr die nüchterne Geschichte einer Wirtschaftsphilosophie - der Philosophie vom freien Markt als Naturgesetz. Geschichtliche Eckdaten, die man abstrakt irgendwo vergraben hatte - etwa die Etablierung der Militärdiktaturen in Südamerika, das Ende der Apartheid oder der polnischen Solidarnosc, das Geschäft im Irak, um nur einige zu nennen - werden so in plausible Zusammenhänge gestellt, die bisher der Interpretation verborgen waren. Ein wichtiges, spannend geschriebenes Buch - auch als Weihnachtsgeschenk für politisch Interessierte bestens geeignet. Absolute Empfehlung.
Rezension Falter , Spiegel-Interview mit Naomi Klein, Auszug