Future Tech 2008: Deus in machina

 100 Milliarden
Nervenzellen, auf tausendfache Weise miteinander verschaltet, ein Meisterwerk
der Evolution: Das menschliche Gehirn ist in Kapazität, Rechenleistung,
Modellierbarkeit und Anpassungsfähigkeit allen existierenden Rechnern um
Lichtjahre überlegen. Neue bildgebende Verfahren und Fortschritte der
Neurowissenschaften ermöglichten in den letzten Jahren ein rasantes Anwachsen des
immer noch lückenhaften Wissens über die Funktionsweise der durchschnittlich
1,3 Kilo schweren Schaltzentrale in unseren Schädeln. Die großen Fragen bleiben
dennoch bislang ungelöst, doch in Lausanne forscht man daran – mit einer
einzigartigen Methode.

Seit 2005 arbeitet
Henry Markram an der Ecole Polytechnique Fédérale in der
Schweiz am „Blue Brain Project“. Das Ziel ist die Erstellung einer akkuraten
Computersimulation eines Geflechts aus künstlichen Nerven, um, Zelle für Zelle,
ein menschliches, funktionierendes Gehirn nachzubilden. Basierend auf
biologisch plausiblen und komplexen Modellen verschiedener Nervenzelltypen soll
so den Geheimnissen des Gehirns auf den Grund gegangen werden – eine
Vorstellung, die noch vor wenigen Jahren als unmögliche Science-Fiction abgetan
wurde, nimmt im Keller der Schweizer Universität Gestalt an.weiterlesen

Der revolutionäre Ansatz vereint die
unzähligen Detailentdeckungen der Biowissenschaften von Grund auf. Anstatt wie
bisher einzelne Gehirnfunktionen
nachmodellieren zu wollen, versucht das „Blue Brain“-Projekt, ein
funktionierendes Gehirn Molekül für Molekül, Synapse für Synapse aufzubauen –
und aus der Funktionsweise des virtuellen Gehirns Rückschlüsse auf die
hochkomplexen Wechselwirkungen und Verstärkungen in den komplexen neuronalen
Netzen zu ziehen. Wenn der kühne Plan gelingt, sollte das simulierte Gehirn
genauso funktionieren wie ein echtes, lebendes menschliches Pendant,
Bewusstsein inklusive – ein Experiment, das weitreichende ethische,
philosophische und auch gesellschaftliche 
Konsequenzen hätte.

 

Bisher ist die Simulation einer einzelnen
neokortikalen Säule – eines Bausteins der Großhirnrinde – einer Ratte auf
zellulärer Ebene gelungen. Zum Vergleich: Enthält eine einzelne derartige Säule
beim Menschen 60.000 Nervenzellen, sind es beim kleinen Nager „nur“ circa
10.000 Nervenzellen und ungefähr 108  Synapsen. Die Simulation, so hofft Markram,
wird in Kürze dank der steigenden Rechnerleistung nach oben skalierbar werden,
bis schlussendlich, vielleicht schon innerhalb des nächsten Jahrzehnts, die 100
Milliarden virtuellen Nervenzellen eines menschlichen Gehirns in ihrer Funktion
realistisch simuliert werden können.

 

Über die Auswirkungen derartiger Technologien
machen sich Autoren der Science-Fiction schon lange ihre Gedanken. Nicht
zufällig wird die Möglichkeit der technischen „Singularität“ immer mit den
Riesenfortschritten der Neurowissenschaften in Verbindung gebracht, birgt doch
gerade die Erforschung des menschlichen Gehirns und des Bewusstseins philosophischen,
technologischen, aber auch gesellschaftlichen Sprengstoff, der schlicht nicht
in seiner Gesamtheit abschätzbar ist. Denkbar ist vieles: Gelingt irgendwann
die Abbildung einzelner menschlicher Gehirne im Virtuellen, werden Individuen
also elektronisch „kopierbar“, steht einer freien Wahl beliebiger Körper – ob
biologisch oder künstlich – nichts mehr im Wege und auch der Tod verliert
seinen Schrecken.  

Auch völlig
entkörperlichtes Leben in virtuellen Realitäten ist dann eine Möglichkeit – und
wird etwa von SF-Autor Charles Stross als Erklärung für das berühmte
Fermi-Paradox herangezogen: Hinreichend hoch entwickelte außerirdische
Zivilisationen wären just deshalb nicht expansiv und auf Kontaktsuche nach
anderen Zivilisationen, weil sie im Zuge der zwangsläufig mit dem Fortschritt
einhergehenden Virtualisierung nicht auf räumliche Ausbreitung und Kontakt mit
„draußen“ angewiesen wären. Der Geist in der Maschine könnte somit wohl
irgendwann unser eigener sein.

Kommentare

noch nicht gesehen

... sonst packt mich das herzzerreißende fernweh noch mehr. mal ehrlich, jedes jahr im herbst krieg ich die unbändige melancholische wanderlust, und zwar nicht die, einen nachmittag auf einen berg zu kraxeln, sondern eher die "narziss und goldmund"-variante. muss wohl das nomaden-gen sein.