Reality Cracking: Das Leben anderer Menschen
Die Fotos fremder Menschen üben eine seltsame Anziehungskraft aus. Die weggeworfenen, verlorenen und wiedergefundenen privaten Fotos unbekannter, vielleicht längst gestorbener und vergessener Menschen wecken einen seltsamen, diffusen Voyeurismus.
Diese Blder unterscheiden sich von allen Fotos, die man sonst in riesigen, unüberblickbaren Fluten in ständiger Überforderung täglich zu sehen bekommt. Sie zeigen den privaten Menschen, keine Modelle oder Stars, die das Fotografiertwerden gewohnt sind. Man betrachtet sie ohne Anlass, ohne jeden Grund außer dem des Zufalls: auf Flohmärkten verramschte Fotoalben, verlorene Filmrollen, Fotos als in Büchern vegessene Lesezeichen.
Unter dem Schlagwort "Found Photography" findet man im Netz Einblicke in vergangene Leben, Zeiten und Menschen. >>>
Es hat etwas von Pornographie: Aus großer - zeitlicher, räumlicher - Entfernung betrachtet man unbekannte Menschen in ihren privaten, ja intimen Momenten. Der Blick des unbekannten Beobachters ist unerwartet, dringt in die unveröffentlichten Leben anderer Zeiten ein.
Man sieht in gewisser Weise die Zeit vor sich, ihr ständiges Verfließen von einer Gegenwart zur nächsten. Das Vergehen der Zeit, des Lebens, der Menschen, und was sie zu allen Zeiten tun, um dagegen anzukämpfen: lächeln, den Moment (im Bild) festhalten, sich erinnern.
Das ist ein EIndringen in die Privatsphären Unbekannter. Kein einziger der Dargestellten hat seine Zustimmung gegeben, man betrachtet diese Bilder gegen den WIllen der nichtsahnenden Fotografierten.
Über ihre Leben, über sie selbst kann man nur anhand dieses einen Sekundenbruchteils mutmaßen. Auf berührende Weise zeigen sie Innenansichten von Menschen und Zeiten und entwickeln einen Sog, dem schwer zu widerstehen ist. Sammler bezahlen auf Flohmärkten in den USA hohe Summen für solche Fotografien.
Und nach dem ersten Staunen über das offensichtlich Bizarre kommt ein Gefühl der Traurigkeit und der Nähe.
Im Internet finden sich einige Sammlungen dieser Bilder. Sie zwingen den Betrachter dazu, näher als an andere Bilder heranzugehen. Es ist schwer damit wieder aufzuhören.
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Kommentare
wunderschön arg
im [URL=http://www.ronahi.at/]Ronahi[/URL]
bekommt man ja visitenkarten, die auf eben solchen alten fotografien gedruckt sind. ein schaudern über so viel privates, das vergangenes schonungslos offen zeigt.
Zum Thema Found Footage gibt es auch einen herrlichen Zusammenschnitt von längst vergessenem, privaten Filmmaterial: [URL=http://verleih.polyfilm.at/repertoire/eine_geschichte_der_bilder.htm]Eine Geschichte der Bilder[/URL], ein Film der in seiner avantgardistischen Wiederverwertung schnöder Home-Video-Aufnahmen (Großteils Super-8, fürs Kino aufgeblasen) selbst wieder zu Whatever Footage geworden ist. In Ö-Land gehen die Programmkinos weiter ein. Zum Glück gibt's da nun das Netz...
interessanter film
außerdem gab's vor kurzem (ein jahr oder so?) eine fotoausstellung mit ebensolchen gefundenen fotos in der generali foundation/wien - muss mal recherchieren, wie das ding geheißen hat. next level: found video en masse auf youtube. stimme zu: das netz wird viele nischenbedürfnisse abdecken. trotzdem: programmkinos unterstützen, multiplexe meiden!
one from the vaults: foto
[URL=http://skarabej.com/english/index.php]Online Museum of Old Family Photographs[/URL]
Voyeurismus auch digital
Analog (hehe) dazu auch eine auf Reisen immer wieder erbauende Tätigkeit: Man setze sich in ein Internet-Café (keines von den modernen, in denen alle Daten nach Neustart automatisch gelöscht werden) und führe eine Dateisuche nach "*.jpg" aus - verblüffend, wie viele Hobbyknipser ihre privaten Schnappschüsse nach dem Herunterladen nicht von der Festplatte löschen. So kam ich unlängst in Medellín in den fast schon erfrischenden Genuss, die lokale Jugend bei ihren ersten, zaghaften Versuchen mit erotischer Posenfotografie zu beobachten ...
spechtler!
ts ts, herr g.! naja eh, es gibt eh wenig interessanteres als fremde menschen. besonders, wenn die sich unbeobachtet wähnen.
apropos: Google Analytics behauptet, du bist in Colón oder in La Divisa. Korrekt?
WTF is La Divisa?
Fast, Herr Admin, fast. Colón ist ca. 80 km weg, an der anderen Mündung des Kanals, wo La Divisa sein soll, hab ich allerdings keine Ahnung. Bin in Panama City, in der Altstadt, wo nachts die Kugeln fliegen und die Schüsse schnalzen. Schaut übrigens ziemlich so aus, wie ich mir La Habana vorstelle...
Grüsse vom Regen in den Nebel,
hanse
panamana - dubdub dududub
ach ja, dachte mir ja immer, dass Google Analytics da nicht so genau ist. Na wenigstens hat's das richtige land erkant! Heut war übrigens strahlend sonnenschein hierzulande!