Ungläubig und plötzlich beunruhigt öffnete Reiser die Augen und fand sich in einem unbekannten, von milchig weißem Licht erfüllten Raum wieder, in den kein Geräusch durch die weit geöffneten, hohen Fensterflügel hereindrang. Unsicher setzte Reiser sich in dem zu großen Bett auf, das wie der Rest des Raumes von einem schmutzigen Weiß war. Er tappste zu den Fenstern, schlug die durchsichtigen, natürlich ebenso weißen Vorhänge zurück und starrte mit wachsender Bestürzung auf das Panorama einer ihm unbekannten Stadt, die nur in unterschiedlichen Weißtönen, von hellem Grau bis zu milchigem Blassgelb, unter einem kühlschrankweißen, hellen Himmel, an dem keine Sonne zu sehen war, in absoluter Stille vor ihm lag. Reiser erkannte keine der sich im endlos scheinenden Meer in verschiedenen Weißtönen abzeichnenden Silhouetten, hatte keine der gewaltigen weißen Kirchenkuppeln, keine der sich unter ihm erstreckenden Dachlandschaften aus weißgrauen Schindeln und keinen der sich am Horizont abzeichnenden hellen Industrieschornsteine je zuvor gesehen.
Reiser trat vom Fenster zurück und setzte sich auf das Bett. Angestrengt starrte er auf den weißen Vorhang, der das Fenster wieder vor seinem Blick verbarg, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie aus weiter Entfernung hörte er seinen eigenen Herzschlag stupide dahinhämmern, fühlte die Trockenheit, die sich in seinem Mund ausbreitete. Nach ungezählten Minuten riss ihn ein einsames Geräusch auf dem Flur aus seiner Schreckensstarre. Reiser stürzte zur Tür ins Treppenhaus. Hier waren die Wände weiß, und der Aufzug, der sich in dem alten Stiegenhaus gerade geräuschvoll nach unten bewegte, trug in schmutzigem Weiß die vertrauten Zeichen rostenden Metalls. Reiser folgte ihm über die Treppenfluchten nach unten. Im Gehen bemerkte er, dass er selbst in einem weißen Schlafanzug stecke; seine Hände und nackten Füße wirkten im Kontrast zu seiner Umgebung fast unnatürlich rot. Als Reiser nach ungezählten Stockwerken im Erdgeschoß ankam, lagen sowohl Aufzug als auch Lobby verlassen da; unsicher bewegte sich Reiser auf bloßen Sohlen auf die hellgraue Eingangstür zu und betrat eine leere Stadt.
So weit sein Blick reichte fand sich kein lebendes Wesen; die Straßenzüge, beherrscht von weißen Fassaden, einmal schmucklos modern, ein anderes Mal von farblos weißen Stuckelementen verziert wie herrschaftliche Residenzen, lagen stumm vor ihm, und als er fassungslos die ersten Schritte auf dem ebenfalls weißen Asphalt getan hatte, wurde ihm mit einem Mal die erneut alles erdrückende Stille bewusst, die nur vom leise klatschenden Geräusch seiner Sohlen auf dem kühlen Asphalt durchbrochen wurde. Plötzlich konnte sich Reiser nicht mehr auf den Füßen halten und setzte sich schwer mitten auf der Straße auf den Boden. Wie war er hierhergekommen? Wo, nein, was war dieser Ort? War er tot? Träumte er? Die Rauheit des weißen Asphalts unter seinem Körper und der vertraute Anblick seiner wie immer zu kurz geschnittenen, schmerzenden Fingernägel sprachen dagegen, doch mit einem Moment durchblitzte ihn die aufsteigende Gewissheit, dass er sich an nichts erinnern konnte. Gewiss, er war Reiser, dies waren seine eigenen, vertrauten Hände, doch ansonsten war sein Gedächtnis leer, eine farblose, gähnende Wüste, die ihn in einen plötzlichen Schwindel von Zeitlosigkeit stürzte und bittere Magensäure in seiner Kehle aufsteigen ließ.
Er schüttelte benommen den Kopf, als er plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Hinter den Fenstern des vor ihm aufragenden Hauses hatte sich etwas bewegt, und schwerfällig rappelte Reiser sich auf und betrat den Hauseingang durch ein milchigweißes Portal. Im Stiegenhaus überfiel ihn plötzlich der nagende Zweifel, in welchem der Stockwerke er den Schemen gesehen hatte, aber im zweiten Stock hörte er undeutlich ein Geräusch, das ihn zu einer der vielen hohen Flügeltüren führte, die sich jedoch nicht öffnen ließ. Aus der Wohnung dahinter waren eindeutig Geräusche zu hören, und als sich Reiser angestrengt lauschend an das weiß lackierte Holz der Tür drückte, meinte er eindeutig das Geräusch halb erstickten, abgehackten Schluchzens zu hören. Laut klopfte er an die Tür, und das Weinen verklang augenblicklich. "Entschuldigen Sie", rief Reiser mit kratziger Stimme. Er räusperte sich und schlug fest gegen die Tür. "Machen Sie auf! Helfen Sie mir!" Die Stille, die auf das widerhallende Geräusch seines Klopfens folgte, war absolut; ein paarmal schlug Reiser noch gegen die Tür, bis er sich frustriert mit einem Fußtritt abwandte und seinen Weg hinaus auf die Straße suchte. Zum Teufel mit ihm, wer immer er war; wenn ihm selbst keine Hilfe zuteil wurde, sollte auch der Unbekannte allein bleiben und weinen, so viel er wollte. So musste er eben jemand anderen finden, der Licht in diese absurde Situation bringen konnte.
Stunden vergingen, in denen er durch die Straßen der weißen Stadt wanderte, ohne jemanden zu finden. Einige Male vermeinte er, eine weiß gewandete Gestalt zu sehen, die sich in großer Entfernung von ihm ohne erkennbares Ziel durch die Straßen bewegte; doch immer, wenn er meinte, das Phantom mit einem atemlosen Lauf zu erreichen, boten sich ihm nur leere Straßenzüge und Gassen, die von seinem schweren Atmen widerhallten. Das milchig weiße Licht, das die farblosen Fassaden der weißen Stadt beleuchtete, veränderte sich nicht. Sein Weg hatte ihn in Zickzackkursen quer durch die stumme Metropole geführt, er hatte gähnend leere Läden, Restaurants und Kirchen betreten, bis er, betäubt von seinen panischen Gedanken und müde vom langen Laufen, wiederum mitten auf einer Straße niedersank. Bleierne Müdigkeit umfasste ihn, und er wollte nur mehr schlafen. Ein Gefühl wortloser Verzweiflung und Gleichgültig erfüllte ihn, und Reiser erhob sich, schleppte sich zum nächsten Hauseingang. Nach mehreren Versuchen fand er eine unverschlossene Tür. Die Wohnung war ebenso leer wie jene, in der er am Morgen - war es der Morgen gewesen? dieser Morgen? - erwacht war, und Reiser fiel auf ein Bett und schlief.
Als er nach traumlosem Schlaf erwachte, war es ebenso hell wie zuvor. Bleierne Erschöpfung ließ ihn noch minutenlang mit geöffneten Augen im Bett liegen; schließlich erhob er sich und ging zum Fenster. Stumm boten sich ihm die leeren Gesichter der weißen Häuser dar, und minutenlang stand Reiser ohne einen Gedanken am Fenster, den starren Blick ohne zu blinzeln ins Leere geradeaus gerichtet. Auf der anderen Seite der Straße wurde ein Vorhang beiseite gezogen und eine Gestalt in Weiß beugte sich aus dem Fenster, den leeren Blick in die Ferne gerichtet, den Mund auf beinahe komische Weise grotesk in einem erstaunten O geöffnet. Wie vom Blitz getroffen suchte Reiser instinktiv und ohne nachzudenken Deckung hinter der Fensterbrüstung; sein Puls raste überlaut in seinen Ohren. Hier war ein anderer, und diesmal würde er ihn stellen. Vorsichtig zog sich Reiser vom Fenster zurück, raste durchs Treppenhaus nach unten und stürmte in das gegenüberliegende Haus. Da er das Phantom in einem der obersten Stockwerke gesehen hatte, drückte Reiser den Knopf des Aufzuges, der sich mit schnarrendem Ächzen nach unten, zu ihm ins Erdgeschoß, in Bewegung setzte. Und während Reiser wartete, den unsteten, zitternden Blick nach oben gerichtet, fiel ihm ein, dass er genau dieses Geräusch, das die sonst so drückende Stille unterbrach, bereits kannte. Er trat einen Schritt zurück, und dann noch einen, bis er plötzlich die Kälte der Mauer im Rücken spürte. Als er das Schlagen der Tür im obersten Stock hörte, wandte er sich in einem gedankenlosen Anfall von Schrecken zur Flucht, hastete über die Straße und fand sich, eine panische Ewigkeit des atemlosen Laufens später, in der Wohnung wieder, in der er erwacht war. Zitternd verschloss er die Tür und schleppte sich mit pfeifendem Atem, völlig erschöpft von seiner kopflosen Flucht, zum Fenster, um vorsichtig hinauszusehen.
Mitten auf der Straße saß der Fremde, weiß gekleidet, und als er plötzlich den Kopf hob, um genau in Reisers angstgeweitete Augen zu blicken, fuhr dieser wie vom Blitz getroffen unter die Brüstung und schüttelte wie in Trance wieder und wieder mit fest geschlossenen Augen den Kopf, bis sich eine tröstliche Taubheit über sein Denken legte und er nur noch wie von weit weg das Geräusch seines eigenen Schluchzens hörte, das sich, tierischen Lauten ähnlich, seiner zitternden Brust entriss. Während das weiße Licht der Stadt ungerührt seine schattenlosen Dächer, Mauern und Straßen beleuchtete, schrumpfte die Sekunde seines zitternden Atemholens ins Nichts und vergrößerte sich, bis sie eine Unendlichkeit von Zeitlosigkeit einnahm und Reiser mit lähmender Klarheit erkannte, dass er allein war wie immer.