Empfehlung: Jeff and Ann VanderMeer: The New Weird

 In unregelmäßigen Abständen scheint es nötig, die Genreschubladen zu erweitern; im Falle der neuernannten Schule des "New Weird" waren es die Genres Horror, Science-Fiction und Fantasy, die im Endeffekt einer Handvoll Autoren, angeführt vom erfolgreichen Briten China Mieville, zu eng geworden waren. Ganz wie es sich fürs 21. Jahrhundert gehört, war es eine Internetdiskussion samt kreativem Schneeball-Schreibprojekt, das die Betitelung und die vorliegende Anthologie hervorgebracht hat.

 Was ist nun New Weird? Im O-Ton:

"a type of urban, secondary-world fiction that subverts the romanticized ideas about place found in traditional fantasy, largely by choosing realistic, complex real-world models as the jumping off point for creation of settings that may combine elements of both science fiction and fantasy."

Unter diesem Dach versammeln sich zugegebenermaßen unterschiedliche Ansätze, denen aber allen ein eigener Umgang mit der Realität gemeinsam ist. Hier bricht nicht das Unheimliche in die Realität ein, sondern vielmehr ist die Realität an sich unheimlich, geheimnisvoll, verdreht oder kafkaesk verrätselt und zugleich realistisch und komplex. Das 19. Jahrhundert, mit seinen industriellen Revolutionen, sozialen Brüchen und  wankenden Wahrheiten, ist offensichtlich ein großer Ideenlieferant, der neben den angegrauten Modeströmungen des Steampunk nun auch im New Weird verwertet wird.

"New Weird" ist somit zuallererst ein Verkaufslabel; die in der Anthologie versammelten Beiträge zeigen aber auch, dass sich die  Autoren ganz zu Recht nicht mehr den leider von schlechter Literatur überschwemmten Popcorn-Genres SF und Fantasy zuordnen lassen wollen. Denn literarisch liefern die allermeisten der versammelten Autoren ganz ungeachtet der mehr oder minder spekulativen Settings wunderbar verstörende, teils surrealistische Miniaturen ab, die tatsächlich ihresgleichen suchen.  Weiterlesen

Die Beiträge sind sozusagen systematisch geordnet. Im ersten Teil der Sammlung finden sich Vorläufer, die quasi im Nachhinein zu Gründervätern geadelt werden. Neben Clive Barker, dessen Körpermassengroteske "In the Hills, the Cities" aus der legendären Kurzgeschichtensammlung "Books of Blood" stammt, finden sich hier auch der ewige Geheimtipp Thomas Ligotti und Fantasy-Urgestein Michael Moorcock als Vorgänger im Geiste, und auch Mervyn Peake darf man durchaus zum Kanon hinzuzählen, auch wenn er hier nicht vertreten ist.

Zu den aktuellen Hauptvertretern des New Weird zählt neben dem auch hierorts bereits gelobten China Mieville eben auch der Herausgeber Jeff VanderMeer selbst (auch hier schon mal kurz gestreift), der mit seinem Zyklus "CIty of Saints and Madmen" die beachtliche Anstrengung unternommen hat, eine der bemerkenswertesten fantastischen Städte seit Jahren erfunden und mit Leben  erfüllt zu haben. Die Lust am Wissenschaftlichen entstammt merkbar einer Schulung an Jorge Luis Borges, und auch sprachlich kann VanderMeer, wie auch Ligotti, durchaus anspruchsvoll bis zur Anstrengung werden. Dennoch: Es lohnt sich aus diesem Grund auch aus Lust am Literarischen,einen Blick in diese Sammlung zu werfen.

 Kurzum: Trotz Hype und immer mit Vorsicht zu  betrachtender Schubladisierwut ist wohl was dran am "New Weird". Ob es so "New" ist, ist die Frage, aber dennoch ist es erfrischend, intelligente und anspruchsvolle Literatur gesammelt zu fassen, die sich aus Neugier weigert, unsere Welt und Geschichte als alleinige Folie für Fiktion zu verwenden. Surreal, hintergründig, manchmal auch echt zum Fürchten: Dem Fan der Phantastik sollte diese Anthologie mehr als einen Blick wert sein.