Die subversive Einsamkeit - Herman Melvilles "Bartleby, der Schreiber"
Das Netzwerk der Gesellschaft gründet zu einem großen Teil auf der Tatsache, dass wir ständig die Verhaltensweisen der Menschen mit denen wir verkehren vorwegnehmen und unsere Erwartungen, dass ihr Verhalten sich im Rahmen bestimmter Alternativen hält, erfüllt werden. Herman Melvilles Bartleby hat seine Palette an Verhaltensweisen aber dermaßen reduziert, dass er gewissermaßen ein zu kleiner Fisch geworden ist, um in diesem Netz zu zappeln.
Bartleby ist Schreiber in einer Kanzlei: fleißig, gewissenhaft und vor allem anspruchslos. Doch bald nach seiner Einstellung muss sein Boss feststellen, dass sein sonst so wertvoller Angestellter Tätigkeiten, die er ihm aufträgt, verweigert. Dabei verwendet er die nahezu immer gleich bleibende Formulierung: „Ich möchte lieber nicht.“ (im engl. Original: „I would prefer not to.“). Dabei bleibt er unerreichbar für jede Forderung nach Rechtfertigung seiner Weigerung.
Indem Bartleby so jedwede Erwartungshaltung ihm gegenüber untergräbt, bringt er seinen Boss in ein schweres moralisches Dilemma. Dieser sieht sich einerseits einem fleißigen und absolut vertrauenswürdigen Menschen gegenüber, der sich noch dazu durch seine zurückhaltende Art wohltuend von seinen beiden anderen Schreibern unterscheidet. Andererseits fühlt er sich von diesem Monolithen eingeschüchtert, von dessen trostlosen Aura der Einsamkeit deprimiert und seiner gelassenen Verachtung provoziert. Allerdings kann der Anwalt die Verachtung bei seinem Schreiber auch nur vermuten, zu reglos ist dessen Mimik, um darin irgendeine Empfindung feststellen zu können.
Als er eines Tages feststellt, dass sein Schreiber gar kein Heim hat, sondern in der Kanzlei wohnt und kurz darauf verkündet, von nun an überhaupt nicht mehr zu schreiben, kulminiert das Dilemma des Advokaten. Nach dem Versuch, eine Haltung der Hingabe an ein allmächtiges Schicksal anzunehmen und Bartleby als Teil des eigenen Lebens anzuerkennen wie die Einrichtung seines Büros (von der sich dieser immer weniger unterscheidet) gibt er doch dem sozialen Druck seines Umfeldes nach und fordert Bartleby auf, zu gehen. An Bartlebys „Ich möchte lieber nicht.“ zerschellt aber das „Sie müssen!“ des Advokaten, denn diesem wird klar, dass seine Formulierung wirkungslos bleibt, wenn sie keine (Polizei-) Gewalt impliziert. Doch eine solche einzuschalten, verbietet ihm wiederum sein Ehrgefühl.
Wie der Anwalt nun seine Verbindung zu Bartleby doch zu lösen und der Anziehung durch dessen subversiv-unbestechlichen Einsamkeit („Vergeblich beharrte ich darauf, dass Bartleby mich nichts angehe...“) zu widerstehen versucht, sollte unbedingt jeder selbst nachlesen. Der Aufwand ist bei nur 65 Seiten auch denkbar klein und wird durch die groteske Komik, die Melville in seiner Geschichte entstehen lässt, zu einem lehrreichen Vergnügen.
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