Entropie
Entropie: Alles strebt dem Chaos zu, gerät unweigerlich vom geordneten in den ungeordneten Zustand. Dieses einfache Prinzip reichte für Stein auch völlig aus, den Zustand der Welt zu erklären, den Zustand seiner Wohnung zu erklären, seinen eigenen Zustand zu erklären.
Vor allem seinen eigenen Zustand. Vor Steins innerem Auge spielte sich dieser schleichende Verfall immer wieder wie im Zeitraffer ab. Stein zerfiel – so kam es ihm jedenfalls hin und wieder vor – quälend langsam in immer kleinere, schmutzgraue Einzelteile, verlor Hautschuppen, Haare, Fingernägel, Zähne.
An jedem Tag schmirgelte ihn die Welt ein bisschen mehr ab, hatte er wieder eine gewisse Menge Schwund zu akzeptieren. Bis irgendwann von ihm endlich nur mehr ein Haufen trockener Staubknäuel übrigbleiben würde, als wäre der Lurch hinter hundert versifften Wohnlandschaften mit Sixties-Design zu einem einsmeterachtzig hohen Typen zusammengekehrt worden, eine Galaxie von Generationen von Staubmilben, deren schlichte Gemüter in seiner staubigen Masse etliche evolutionäre Sprünge vollzogen hatten bis hin zur eigenen Sprache, zur Zivilsation, zur Schrift, zu eigenen Religionen, zu Ziggurats aus mikroskopisch kleinen Hautpartikeln, die Stein sich vielleicht irgendwann mal aus den Augenwinkeln, aus den Nasenlöchern oder aus dem Nabel gekratzt hatte. Zehn Jahre, hatte STein einmal gelesen, dauerte es, bis jede einzelne Zelle seines Körpers von einer neuen Zelle ersetzt wurde. Der Vorgang, stellte er sich vor, ließe sich gut mit der traditionellen japanischen Architektur vergleichen, die praktischerweise jede Restaurierung durch spätere Generationen unnötig macht, da jeder Pfosten und jeder Balken der Jahrhunderte alten Bauten von einem Heer kleiner japanischer Tischler kontinuierlich ausgetauscht und erneuert wird. Alle zehn Jahre bekam Stein also, statistisch betrachtet, neue Zehen, neue Augenbrauen, neue Brustwarzen, eine neue Bauchspeicheldrüse, erneuerte sich also, statistisch betrachtet, ganze sieben Mal in einem durchschnittlichen Leben.
Wohin mit den alten Zellen, fragte Stein sich, als er noch Fragen gestellt hatte. Werden sie teilweise weiterverwendet, als Steinbrüche für die blitzblank neu gebauten Einzelteile? Werden sie über Bord geworfen? Steins Verdacht war, dass sie einfach rausgeschmissen würden, von den anderen, jugendlich arroganten Zellen mit ihren straffen Zellkernen, ihren ehrgeizigen Mitochondrien und penetrant gesunden Zellmembranen isoliert und an den Rand gedrängt würden, bis sie schließlich nur mehr mit letzten, mikroskopisch kleinen Fasern an der äußersten Epidermis hafteten, der Außengrenze von Steins Körpers, seines Territoriums, wo sie hungrigen Staubmilben, achtlos kratzenden Fingernägeln oder einfach der Schwerkraft zum Opfer fallen würden. Ade, schöne Welt, so warf Stein sich stückweise jede Sekunde achtlos über Bord, ein ununterbrochenes Seemannsbegräbnis.
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