Messias im Nahkampf
Es muss nicht immer Schrotflinte sein: Arkanes „Might & Magic: Dark Messiah“ ist kein Rollenspiel, sondern ein Egoshooter im Fantasygewand – und narrativ ein solider Fortschritt für das Genre.
Nicht erst seit Peter Jacksons „Lord of the Rings“ gehören Fantasy und CGI zusammen. Den Worten Gundolf Freyermuths ist auch über zwei Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift wenig hinzuzufügen: „Für die heraufziehende Computerkultur ist Fantasy, was der Jugendstil für die industrielle war: ihre Aufhebung. Wie dieser bezieht Fantasy ihre Faszination aus der Realisierung tradierter Formen und Inhalte mit den Mitteln der fortgeschrittensten Technologien. Überleben etwa in den metallenen Pflanzenornamenten des Jugendstils Reste der von der Technik überwundenen Natur, so verhilft heute modernste Elektronik uralten Geschichten zu neuem Leben: bigger than life im besten Falle, im Durchschnitt einfach nur bunter.“ (Gundolf S. Freyermuth: „Software Fantasy“ In: Kursbuch 75, März 1984, S. 161-179.) Es ist kein Wunder, dass die Vehikel des Eskapismus im Computerspiel par excellence, die seit den Anfängen des Computerspiels existieren, Rollenspiele sind. Mit Hunderten Stunden Spielzeit wird geworben, mit Tausenden Gegenständen, unendlichen Freiheitsgraden der Charaktererstellung und mit epischen Geschichten, die aus mehr oder weniger klassischen Motiven der mündlichen und epischen Erzählliteratur Europas immer neu zusammenkombiniert werden. Das vermutlich meistgespielte MMORPG der Welt, „World of Warcraft“, zeigt in seinen behaupteten oder tatsächlichen Schreckensmeldungen von Suchtgefahr und Realitätsverlust der Hardcore-Spieler deutlich den eingelösten Anspruch auf die Immersion in eine parallelen Welt, in der sich der Spieler verwirklichen kann. Die Zeiten, in denen diese inhaltlich riesigen Werke grafisch dem Rest der Computerspielwelt hinterherhinkten, sind längst vorbei; nur die Technik der aktuellsten Egoshootergenerationen ist grafisch aufwendiger als die der immer schöner und größer werdenden Welten der Rollenspiele am Computer.
Schon in der mittleren Neuzeit der Computerspielgeschichte versuchte Origin den Sprung zu noch mehr Immersion, um dem Spieler noch überzeugender das Gefühl des Eintauchens in eine Fantasywelt zu bieten: 1992 brachte „Ultima Underworld“ eine überzeugende 3D-Umgebung mit klassischen Rollenspielelementen zusammen. Natürlich war dies nur eine weitere logische Konsequenz aus der schon lange zuvor populären Darstellungsform einer dreidimensionalen Welt, wie sie sich als Paradebeispiel etwa schon in der „Bard’s Tale“-Reihe etabliert hatte. Doch während bei den Vorgängerspielen der Ausblick auf eine nur schrittweise umblätternde 3D-Welt von der Menüoberfläche des Spiels stark eingeschränkt wurde, nutzte Origin das Potenzial des sich langsam etablierenden Egoshootergenres. Ein naheliegender Zusammenschluss: Der Grundcharakter des Egoshooters – der Blickpunkt des Spielers ist gleichzeitig der seiner Figur, der Spieler befindet sich also „im Körper“ des Spielhelden – trägt ebenso zur Immersion und Identifikation mit der Spielfigur bei wie das rollenspieltypische Feintuning des eigenen Charakters, der somit schrittweise den Vorlieben des Spielers angepasst werden kann. Eine Synthese der beiden Spielprinzipien versprach seit langem die Realisierung des perfekten Eintauchens, der vollständigen Immersion des Spielers in eine andere Welt. Dass die meisten Rollenspiele dennoch die isometrische Draufsicht – und somit die „Trennung“ des Spielers vom Standpunkt des eigenen Helden – bevorzugen („Baldur’s Gate“, „Diablo“, „Fallout“, „Neverwinter Nights“, „Titan Quest“ etc. etc.) – oder aber diesen per „Schulterkamera“ zeigen („Ultima X“, „Fable“, „Gothic“), hat spielmechanische, technische, aber auch genreimmanente Gründe.
Umgekehrt ist auch die Geschichte des Fantasysettings im sonst traditionell eher Horror-, Science-Fiction- oder Military-Settings zugeneigten Genre Egoshooter lang: von ids „Heretic“ (1994) über das zeitweise im Fantasysetting geplante „Quake“ (1996) zu „Thief“ (1998) und „Wheel of Time“ (1999), um nur einige zu nennen. Auf Rollenspielseite wiederum bemühte sich besonders die „Elder Scrolls“-Reihe von Anfang an um die Synthese von Egoshootertechnik und RPG-Mechanik; der bislang letzte Teil, „Oblivion“ (2006), bot beeindruckende Technik und Egoshooter-Optik bei gleichzeitiger Beibehaltung von Rollenspielmechaniken. Arkane, die Programmierer des eben erschienenen „Might & Magic: Dark Messiah“, traten schon 2002 mit „Arx fatalis“ mit einem ambitionierten Hybridspiel in Erscheinung, das wegen Lizenzschwierigkeiten nicht unter der „Ultima Underworld“-Franchise erscheinen durfte und trotz positiver Kritiken unter den Verkaufserwartungen des finanziell gebeutelten Publishers JoWood blieb. Mit „Dark Messiah“ verwertet Arkane diesmal erfolgreich eine weitere ehrwürdige Rollenspielmarke: „Might & Magic“ steht für ein – zynisch gesprochen – prototypisches, stets generisch anmutendes Fantasyuniversum, komplett genretypisch ausgestattet mit Zauberei, Königen und Orks, das in der Vergangenheit sowohl für Rollenspiele als auch für eine Strategiespielreihe als Namensgeber und Kulisse diente. Mit „Dark Messiah“ ist die Marke „Might & Magic“ nun im publikumsträchtigen Segment der Egoshooter angelangt, doch Arkane mischt auch hier Rollenspielelemente wie Charaktertuning und Erfahrungspunkte ins Spiel, ohne aber die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des actionbetonten Genres zu missachten.
„Dark Messiah“ nutzt dabei die Immersionsangebote der Technik vorbildlich. Das Physiksystem von Valves Source-Engine setzt neue Maßstäbe – die unzähligen Fallen, die der Spieler auf seine Feinde loslassen kann, vermitteln glaubhaft die Illusion einer funktionierenden Welt. Überdies und endlich wird auch der Körper der Spielfigur sichtbar und spürbar gemacht: Wer an sich herabblickt, sieht Hände und Beine, auch beim Klettern, Kämpfen und Laufen suggeriert „Dark Messiah“ ein Gefühl der Körperlichkeit, das den meisten anderen Egoshootern fehlt. Besonders in den zahlreichen Nahkämpfen wird dieser Fortschritt deutlich: Trotz manchmal unlogischer Kollisionsabfragen vermittelt „Dark Messiah“ mit seinem einfachen, aber abwechslungsreichen System aus Kombos, Blocken und Fußtritten ein neues Spielgefühl im traditionell und namensgebend auf Schusswaffen setzenden Egoshootergenre. Originelle Details der Kameraführung (etwa beim Aufstehen, das wie in F.E.A.R. plastisch aus der Ichperspektive animiert wird, oder wenn Gegner im erbitterten Nahkampf den Spieler aufheben und von sich wegschleudern) verstärken den Egoshooter-typischen Endruck der körperlichen Identität des Spielers mit seiner Figur – keine geringe Leistung in einem Genre, in dem man sich oft als entkörperlichte, schwebende Kamera fühlte.
Zu alledem kommt im Singleplayerteil solidestes Storytelling: Obwohl Arkane das Rad nicht neu erfindet, kombiniert „Dark Messiah“ die Tugenden von „Half-Life“ (Scripting, Erzählen im Spiel selbst) mit unaufdringlich eingesetzten CGI-Sequenzen – in denen aber lobenswerterweise meist der Blickpunkt des Protagonisten nicht verlassen wird. Zugegeben: Die lineare Story ist altbekannte Fantasy-Hausmannskost, doch gerade im ersten Drittel des Spiels zieht „Dark Messiah“ erzählerisch alle Register: Vom Tutorial über die Ankunft in Stonehelm bis hin zur nächtlichen Verfolgungsjagd über die Dächer und zur Flucht per Schiff bietet das Spiel vorbildliche Unterhaltung im rasanten Tempo; erst ab dem zweiten Drittel, das zum Großteil in dunklen Schächten und unterirdischen Labyrinthen spielt, verliert die narrative Struktur etwas an Spannung, um zum Schluss wieder an Fahrt aufzunehmen. Die Idee, dem Spieler eine begleitende „Stimme im Kopf“ zu geben, ist zwar nicht neu, funktioniert aber (bei sehr gutem Voice-Acting) ausgezeichnet als Handlungsmotor und unaufdringlicher Hinweisgeber. Dass das Spiel, dessen Hauptreize in der grandiosen Grafik, dem gelungenen Sound und dem erwähnten überdurchschnittlich soliden Storytelling liegen, auch nach dem Abspann nicht verstaubt, ist einerseits zwei variablen Enden (für gut oder böse), andererseits aber vor allem dem simplen, aber gelungenen Fertigkeitensystem zu verdanken. Dieses rudimentäre Rollenspielsystem ermöglicht die schrittweise Spezialisierung des Helden auf Magie, Kampf oder Schleichen.
Sowohl Egoshooterfreunde als auch actionaffine Rollenspieler werden „Dark Messiah“ zu würdigen wissen – und die egoshootertypische Spieldauer verlangt im Unterschied zu „Gothic 3“ oder „Oblivion“ keine wochenlange Spieleklausur: Das Spiel ein kurzweiliger, spannender und intensiver Abstecher in eine physikalisch und atmosphärisch glaubhaft realisierte Fantasywelt – im Gegensatz zum obligatorischen monatelangen Versinken in den riesigen Welten großer Rollenspiele. Arkanes „Dark Messiah“ ist ein überdurchschnittlich gelungenes Spiel geworden, das vorhandene Ansätze im Storytelling ausbaut und immersive Elemente aus Rollenspiel und Egoshooter perfekt ausbalanciert: „bigger than life“ – und bunter noch dazu.
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