Echt virtuell
Wunderbare Welt des Web: Die Grenzen zwischen Realität und virtuellen Welten verwischen zusehends. Die verbindenden Elemente: Business – und Hype.
Was ist real, was virtuell? Eine scheinbar einfache Frage, die im Angesicht der immer komplexer und größer werdenden virtuellen Welten und Communitys im Netz dennoch immer schwieriger zu beantworten wird. Ein gestohlener virtueller Gegenstand kann durchaus zu ganz realem Mord und Totschlag führen, wie vor einiger Zeit in China geschehen, das systematische Abgrasen künstlicher Welten, das sogenannte „Gold-Farmen“, verschafft ebenfalls im Reich der Mitte geschätzten 200.000 Jugendlichen (schlecht) bezahlte reale Jobs, und Immobiliengeschäfte können auch in virtuellen Welten ganz wirkliche Reichtümer erwirtschaften. Kurz gesagt: Mit Onlinespielewelten lässt sich handfest Geld verdienen, denn die nur im Computer existierenden Gegenstände, Immobilien und Figuren wechseln heute oft für harte Währung den Besitzer. Hundert Millionen Menschen sind weltweit in vielen virtuellen Welten registriert. Da verwundert es kaum, dass die bislang größte künstliche Spielewelt, Blizzards „World of Warcraft“, ein Massive Multiplayer Online Roleplaying Game (MMORPG) mit einer Spielerzahl von über sieben Millionen weltweit, längst ganz real das Bruttoinlandsprodukt kleinerer Nationen überflügelt hat.
Die Großen der Wirtschaft haben nun den Braten gerochen: Marketing, Verkauf, kurz: Wirtschaftsleben in virtuellen Welten sei das nächste große Ding. IBM kündigte vor kurzem an, die stolze Summe von zehn Millionen Dollar in den Ausbau und die Weiterentwicklung der Präsenz des Unternehmens in den virtuellen Communitys zu investieren. Das Lieblings- und erklärte Zukunftsprojekt des Technologieriesen ist „Second Life“, wie auch Anton Fricko, European Programm Manager IBM Emerging Internet Technologies, vor kurzem in Wien bestätigte. „Second Life“, erdacht von Amazon-Gründer Jeffrey Bezos und Ebay -Pionier Pierre Omidyar, nimmt einen gewissen Sonderstatus ein, da es weniger Spiel, sondern mehr virtueller Spielplatz ist, auf dem die Benutzer ihre Vorstellungen relativ frei umsetzen können: Von der Gestaltung der eigenen Spielfigur (des „Avatars“) bis zu Erwerb und Ausstattung eigener virtueller Gegenstände und Immobilien reicht die Freiheit. Ohne klingende Münze geht hier – man beachte den Realismus – freilich wenig: Die Meldung von Ailin Graef, die mit cleveren Grundstücksspekulationen in „Second Life“ ganz real eine Million Dollar gescheffelt hatte, heizte das Interesse für die Spielwelt weiter an. Der Hype bricht gerade an allen Ecken los: Reuters eröffnet eine eigene Dependance in der virtuellen Welt, der deutsche Fernsehsender Bunch TV wird sowohl im Spiel als auch real senden und IBM schwärmt wie andere Geschäftsriesen von den endlosen Möglichkeiten, die „Second Life“ und seine virtuellen Nachfolgewelten in Zukunft für Kunden und – wer hätte das gedacht – große Firmen als Marketings-, Verkaufs- und Präsentationsflächen bereitstellen könnten.
Der Einstieg von IBM, Hewlett Packard, Intel, Sony BMG und Adidas in die „virtuelle Geschäftswelt von morgen“, der mit großem Enthusiasmus und noch größeren Werbeetats kräftig gehypt wird, stößt aber auch auf Kritik und handfeste Probleme aus dem „First Life“. So beginnen sich etwa zunehmend auch nationale Steuerbehörden, allen voran die amerikanische IRS, für die virtuellen Märkte und die hier bisher großteils unbehelligten Geldflüsse zu interessieren. Dass die unsichere rechtliche Situation, die auch IBM-Mann Fricko eingesteht, noch reichlich Konfliktpotenzial bietet, zeigt sich ganz konkret etwa in einer wohl recht kleingedruckten Klausel in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Nutzung von „Second Life“, wird da doch in dürrem Juristenenglisch festgestellt, dass buchstäblich alles, vom Account selbst bis zu den angehäuften, gekauften oder selbst erschaffenen Gegenständen und Immobilien, im Besitz des Spielbetreibers Linden Labs verbleibt. Erste Klagen beschäftigen bereits die Gerichte in den USA, weitere dürften weltweit folgen – zumindest in dieser Hinsicht tut sich unbestritten ein neues, bisher gänzlich unbekanntes Geschäftsfeld für künftige Generationen von Medienanwälten auf.
Trotz dieser Hürden, dies sei den eifrigen Trompetern der schon wieder neuen Geschäftszukunft von morgen unbenommen, werden virtuelle Welten ohne Zweifel fester Bestandteil der Realität von morgen sein – inklusive Werbung, neuen Geschäftschancen, Konsumparadiesen und ganz neuen Businessmodellen. Kontrastprogramm: Die spanische NGO „Mensajeros de la Paz“ hat sich der bunten Konsumzukunft übrigens bereits jetzt mit einer sarkastischen Aktion angenommen: In der Gestalt eines obdachlosen schwarzen Kindes in den Glitzerwelten von „Second Life“ bringt man noch ein bisschen mehr Realismus in die virtuelle Welt – und holt die oft weniger geliebte Wirklichkeit wieder etwas mehr ins Blickfeld.
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