Reality Cracking: Stanislaw Lem ist gestorben

Reality Cracking: Stanislaw Lem ist tot.

Der polnische Altmeister der Zukunftsliteratur, geboren 1921 in Lwòw (Lemberg, heute Ukraine), ist einer breiteren Leserschaft vor allem durch seinen Roman "Solaris" (1961), die Sterntagebücher (1957) sowie seine Robotermärchen (1964) bekannt. Bereits diese drei Werke zeigen exemplarisch Lems souveräne Sicherheit in verschiedenen Gattungen. Während Solaris eine trockene, ruhig erzählte Reflexion über das grundsätzlich Andere, ist, auf das der Mensch treffen könnte und das ihm letztlich ein Mysterium bleibt, sind die "Sterntagebücher", in denen der Sternenfahrer Ijon Tichy  Münchhausen gleich verschiedenste unglaubliche Erlebnisse schildert, der Satire verpflichtet. Die "Robotermärchen" wiederum sind allegorische Miniaturen, deren Protagonisten nur lose an die Science Fiction angelehnt sind.

Weniger bekannt sind Lems philosophische Werke wie "Summa Technologiae" (1963), wo Lem - ziemlich früh und über das mechanische Paradigma der zeitgenössischen Science Fiction hinausreichend über Biotechnologie, virtuelle Realität auch im Zusammenhang mit Unterhaltungsindustrie ("Phantomatik") und über Ontologische Fragen räsoniert. In der "Philosophie des Zufalls" entwickelt er eine rezeptionsästhetisch begründete, also von der Wirkung der Literatur ausgehende Kulturphilosophie, die in geradezu schopenhauer'sch pessimistischen Betrachtungen zu Materie, Evolution und Kosmos führt. Bereits in der "Summa" erschien der Mensch (wenig schmeichelhaft) als Nebenprodukt des Kosmos, nicht als dessen Krone, im "Piloten Pirx" wird uns die Welt als eine Unfertige, Unzuverlässige vorgeführt. In Solaris muss der Mensch mit seinen Erforschungen und Klassifizierungen vor einem Verständnis des gänzlich Anderen in Form eines "lebendigen" Ozeans kapitulieren, schlimmer noch, er wird durch das Auftauchen von Personen aus seiner Vergangenheit gänzlich auf seine Innenwelt zurückgeworfen.

Freilich ist es bei Pirx gerade die eigene Unzulänglichkeit, die "Nichtlinearität", die ihm immer wieder bei der Bewältigung seiner Probleme verhilft. Und auch Lem selbst verweigerte es zeitlebens, aus der erfahrenen kosmischen Unzulänglichkeit eine absolute Kritik der Realität zu machen: Spekulationen - auch und gerade solche des Genres SF - sind ihm zuwider: er sieht sein belletristisches Werk auch lieber als Zukunftsroman, als Futurologie. Darum hat sich Lem in den späten 80ern gänzlich philosophischen, technologiekritischen Werken gewidmet hat, seit 1997 auch im Telepolis-Magazin ("Die Megabit-Bombe"): über "Informatische Sintflut" wird hier spekuliert, über gute und schlechte Medien und über den "Infoterror", der uns heute widerfährt.

Ein schönes Beispiel für Lems vielfältiges Talent ist "Vollkommene Leere" (1971), eine Sammlung von 13 Rezensionen von Büchern, die es nicht gibt. Voll von Anspielungen und Seitenhieben (etwa auf Joyce' "Ulysses") und eine vierzehnte, die die restlichen 13 bespricht. Meta-Meta-Kritik also, und reality cracking at its best.